Sammeln, ordnen und Geschichte(n) schreiben?
Lasst uns den Anfang bedenken, dass wir das Ende begreifen.
Ernst Wiechert
Von Historikern kann man nur lernen: Wenn sie ein bestimmtes Thema bearbeiten und etwa eine Ortsgeschichte schreiben müssen, sammeln sie vorerst einmal alles erreichbare Material. Dazu gehören bisherige einschlägige Publikationen, der Inhalt von Gemeindearchiven, schulische und kirchliche Dokumente, Urkunden, Presseausschnitte, Pläne, Karten, Bilder, Fotografien, Tonbandaufzeichnungen, Filme und so weiter. Sie überlegen sich, welche Personen entweder wandelnde Geschichtsbücher sind oder über geschichtliche Dokumente verfügen. Sie werden bei Industrie und Gewerbe vorstellig, bei Vereinen und tragen Familien-, Dorf- und Flurnamen zusammen – neben viel anderem. Dann werden Dossiers angelegt, die nach getaner Arbeit archiviert werden, da ja nicht alles verwertet werden konnte.
Ortsgeschichte
Ich wurde im Herbst 2003 zur ersten Kommissionssitzung eingeladen, bei der es um die Ausarbeitung einer erweiterten und nachgeführten Ortsgeschichte von CH 5023 Biberstein AG ging. Bei dieser Aufgabe führen der bekannte Menziker freischaffende Historiker Markus Widmer-Dean und der geschichtlich versierte Geograf Gerhard Ammann aus Bibersteins Nachbargemeinde Auenstein AG das Szepter. Da wird also mit gutem Grund auf die Kombination von Geschichte und Geografie gebaut, denn der Zeitenlauf wird ja vom geografischen Raum beeinflusst, in dem er sich abspielt.
Biberstein zum Beispiel liegt abseits der grossen Strassen am Jurasüdfuss und ist nur über vorbildlich schmale Ortsverbindungsstrassen beziehungsweise eine einspurige Aarebrücke von Aarau/Rohr her zu erreichen. Die Gemeinde, die zwischen 1316 und 1318 als Stadt gegründet wurde, konnte sich in ihrer Abgeschiedenheit nie richtig entwickeln. Sie hat keine Industrie und keine Kirche. Dafür wachsen Reben. Die Kunst der Beschränkung sollte sich in dieser lärmigen und hektischen Welt als ein grosser Vorzug erweisen. Die Beschaulichkeit zählt. Die Stille ist eine Voraussetzung, um auf eigene Gedanken zu können, zu reifen und zu wachsen. Man kann hier von Lebensqualität sprechen.
Ode ans Sammeln
Doch in diesem Bericht geht es weniger um eine Vorwegnahme des Ortsgeschichte-Inhaltes als vielmehr um eine Ode ans Sammeln, ans Festhalten und Behalten, wie es die Historiker lehren. Denn was heute stattfindet, ist morgen schon Geschichte. Und je weiter es zurückliegt, desto verschwommener werden die Umrisse des Geschehenen und desto wertvoller werden die Belege, die die Konturen wieder zurückholen. Wenn aber die Erinnerungen vollständig verblasst und alle Dokumente verschwunden sind, die darüber Auskunft gaben, dann ist es vorbei. Vorbei ist vorbei. Ein grosses schwarzes Loch. Punkt.
Klar, man kann nicht alles behalten. Unsere Wohnungen wären mit Papier vollgestopft, gäbe es nicht die Wohltat der Papierabfuhr – hin zur Wiederverwertung. In der Wirtschaft werden die Akten etwa 10 Jahre lang aufbewahrt und dann vernichtet, geshreddert. In Biberstein wurde 1966 ein Teil des Gemeindearchivs unbesehen in Papierstreifen umfunktioniert, ein unwiederbringlicher Verlust, der heute bedauert wird. Auf diese Weise werden oft Lücken in die Geschichte gerissen, die nie mehr zu stopfen sind. Die Geschichtsschreibung kann sich nur auf das beziehen, für das sich noch Belege oder andere Dokumente finden, und deshalb ist die Geschichtsschreibung immer lückenhaft. Auswählen und werten muss sie ohnehin: Was war wichtig?
Die Idee, alles, was ein gewisses Alter hat, wegzuwerfen, zeitigt selbstverständlich katastrophale Auswirkungen. Gerade betagte Dokumente sind in der Regel wertvoll; im Antiquitätenhandel erzielen Raritäten von hohem Alter stattliche Preise. Aber ob jung oder alt, immer muss entschieden werden, was für die Nachwelt wichtig sein könnte. Und bei dieser Tätigkeit ist viel Ungewissheit, viel Spekulation dabei. Schon oft habe ich ein Dokument im Rahmen einer Aufräumphase vernichtet, und wenige Tage später hätte ich es dringend gebraucht. Andere Schriftstücke, die mir bedeutend zu sein schienen, habe ich jahrzehntelang aufbewahrt, und kein Hahn krähte mehr danach. Die Lebensweise der Menschen spielt dabei eine untergeordnete Rolle, obschon gerade sie auf ein grosses Interesse stösst.
Diese modernen Zeiten sind von einer Informationsüberfülle geprägt, aber auch von schnellen Veränderungen und vom verlorenen Sinn für das, was war. Die Vergangenheit, die so vieles erklären würde und lehren könnte, ist kein Thema mehr. Wer heutzutage einen Sinn für Geschichte und Traditionen bekundet, wird belächelt und als Ewiggestriger eingestuft, der den Anschluss verpasst hat.
Die Kultur des Loslassens
Aus dieser Mentalität heraus hat sich die Kultur des Loslassens herausgebildet. Wenn man Bestehendes loslasse, so wird gelehrt, sei man für Neues offen. Und dieses Neue hat aus unerfindlichen Gründen einen hohen Stellenwert; es wird unbesehen als das Bessere, einzig Richtige betrachtet, den zahlreichen anders lautenden Erfahrungen zum Trotze. Das Neue wird als das einzig wirklich Erstrebenswerte betrachtet, ganz im Gegensatz zum Alten, das mit veraltet, unbrauchbar, Platz versperrend, belastend gleichgesetzt wird.
Dieselbe Wertung wird selbstredend auch auf Menschen übertragen. Man spricht von einer Überalterung der Bevölkerung, das heisst von einer Bevölkerung, die älter geworden ist als es der Gesellschaft, die jung, aktiv und spassig zu sein hat, zuträglich ist: Alte Menschen sind ausrangierte Menschen, die nur Kosten verursachen und nichts nützen… zumindest ist solch eine Beurteilung unterschwellig im Begriff enthalten. Daran ist vieles fasch, insbesondere der Umstand, dass ältere Personen abgeschoben und ruhig gestellt statt ins pulsierende Leben einbezogen werden; das brachliegende enorme Potenzial müsste dringend genutzt werden.
Diese Wegwerfzeit wird als geschichtliche Epoche im Rückblick keine grosse Rolle spielen, da nicht viel von ihr übrig bleiben wird; das Nachhaltigste dürften noch einige Sondermülldeponien sein, aus denen immerhin Rückschlüsse auf das Gebaren der heutigen Menschen gezogen werden können.
Die Wegwerfkultur wird durch den Platzmangel begünstigt; Wohn- und Lagerräume sind rar und teuer geworden. Eine gewisse Erleichterung hat der Computer gebracht, der unendlich viele digitalisierte Daten auf kleinstem Raum speichern kann. Aber die Speicherformate veralten bald, diesmal ohne an Wert zuzulegen, und ihr Inhalt kann eines Tages nicht mehr gelesen werden. Damit hat man eigentlich bloss eine neue Form des Wegwerfens erfunden, ein automatisches Wegwerfen, Archive, die sich selber vernichten sozusagen.
Das Aufbewahren und Wegwerfen ist auch eine Folge qualitativer Aspekte. Ein handwerklich meisterhaft gearbeitetes Möbelstück, das Jahrhunderte lang beste Dienste leisten kann und durch den Gebrauch zunehmend attraktiver, charaktervoller wird, hat einen grossen Wert. Und wenn man es loswerden möchte, wird es Käufer geben, die sich darum reissen. Ein Möbel aus verleimten Spanplatten aber, das bald einmal aus den Fugen gerät, wandert bald in die Kehrichtverbrennungsanlage – eine andere Verwendung gibt es für die Trümmer nicht. Ähnlich ist es auch mit den Informationen: Lieblos hingeworfenes Schnellfutter wird schon am nächsten Tag niemand mehr lesen wollen. Schade um die Zeit, schade um den Platz, um es aufzubewahren.
Spinnt man die Gedankenfäden über die heutige Loslass- und Vernichtungskultur weiter, kommt man zu erschreckenden Erkenntnissen. Noch keine Zeit hat so viel Natur zerstört, Arten (Pflanzen und Tiere) vernichtet; sogar Kultursorten werden dem modernen Einheitsdenken geopfert. Unter dem Einfluss der US-amerikanischen kommerzialisierten Schrottkultur ebnen sich die Kulturen weltweit ein – das Wort „Globalisierung“ ist auch ein Synonym für Kulturverlust.
Vereinfachende Einebnung
Und genau das wird die Arbeit künftiger Historiker enorm vereinfachen. Der geografische Raum wird kaum noch eine Rolle spielen, da sich überall ungefähr dasselbe abspielt. Und so wird man denn auch auf weniger Dokumente angewiesen sein; das simplifizierte, facettenarme Leben wird aufgrund weniger Indizien ziemlich genau dargestellt werden können.
Vielleicht braucht man dann dazu auch die Schrift nicht mehr. Rechnet man auf der Grundlage des sich verbreitenden Neoanalphabetismus hoch, wie lange es noch dauern wird, bis der letzte Lesekundige das Zeitliche gesegnet hat, kommt man zu durchaus überschaubaren Zeiträumen.
So nimmt die Geschichte ihren Lauf. Und aus Historikern könnten allmählich wieder Geschichtenerzähler werden, welche die mündliche Überlieferung pflegen.
Aber die „Neue Ortsgeschichte Biberstein“ werden wir dennoch ausarbeiten. Etwa die Hälfte davon darf als bleibender Wert betrachtet werden: 50% der Buchseitenfläche soll nämlich mit Bildern gefüllt werden. Die Folge einer weisen Voraussicht.
Walter Hess