Das Textatelier ist auch ein Buchatelier
Schreiber wären überflüssig, wenn es keine Leser gäbe. Infolgedessen sind im Rahmen der Schreibkultur die Leser eindeutig das zentrale Ereignis. Denn das Schreiben hat mit dem Lesen zu tun. Wie die Pisa-Studien lehren, ist das allerdings eine allmählich aussterbende Fähigkeit. Anderseits zeigen Bestseller auf dem Buchmarkt wie die „Harry Potter“-Serie von J. K. Rowling , dass doch noch gelesen wird, wenn das Geschriebene durch Marketingtricks hinreichend bekannt gemacht wird und es die aktuellen Leserbedürfnisse trifft. Aber vielleicht möchte man das Buch einfach haben, um es als Dekorationsgegenstand ins Gestell neben die Elektronikgeräte zu stellen. Die Verbreitung (Auflage) sagt nichts über den Wert eines Buchs aus.
Jedenfalls braucht der Publizist ein Publikum, das allerdings nicht um ihn herum steht, nicht die nach oben ausgestreckten Arme telegen beugt, streckt und dann die Hände ganz oben zum Applaus aufeinander knallen lässt. Das Lesevergnügen spielt sich vielmehr im trauten Bereich ab. Es ist eine Tätigkeit, die sich im Gegensatz zu Live-Aufführungen in Hallen und Sportstadien dezentralisiert abspielt und die nicht den Gesetzen der Massenpsychologie gehorcht. Da triumphiert die Individualität.
Die modernen Leserbedürfnisse werden meistens durch die Medien (Fernsehen, Radio, Presse) gesteuert. Menschen, die durch die Massenmedien aus Quotengründen zu Stars emporstilisiert worden sind, schreiben Bücher oder lassen sie schreiben. Der bekannte Name auf dem Buchumschlag bürgt zwar nicht für literarische Qualität, aber für Absatz, und das ist das Wesentliche daran. Was tut schon der Inhalt zur Sache? Wenn er Diskussionen und im Idealfall noch gerichtliche Verfügungen auslöst, ist das auch gut und zusätzlich verkaufsfördernd. Wesentlich ist der Kult, der rund um ein Werk inszeniert wird – wie etwa die strikte Pflicht zur Geheimhaltung des Inhalts bis zum Potter-Vernissagetag (bei Strafandrohung), die Überführung der Druckunterlagen per Polizeischutz an die Druckerei und die Auslieferung um Mitternacht. Solches passt zur Thematik aus dem Märchenhaft-Kriminellen.
Bestseller werden inszeniert. So habe ich in meinem Bekanntenkreis vor dem Erscheinen des 6. Harry-Potter-Bands keinerlei Bedürfnis nach Schilderungen des Wiedererstarkens von Lord Voldemort und seiner Todesser geortet, und auch das Verlangen nach spannend beschriebenen Zwischenfällen, die auf die Welt der Muggel übergreifen, schien sich nach meinen persönlichen Feststellungen eher in Grenzen zu halten. Aber das Rätselhafte rund ums Verschwinden von Menschen oder Tötungen und Unglücke sind offenbar genau das, wonach sich die (auch) Jungen sehnen, besonders wenn sie gut beschrieben sind. Und das banale Gut-und-Böse-Strickmuster zieht. Es hat auch die Weltpolitik erfasst, die auf banalen Machtansprüchen über Menschen und Rohstoffe beruht. Kriege und Unheil scheinen ihre Faszination nicht verloren zu haben, obschon jede normale Tageszeitung selbst ausgeprägte Bedürfnisse in dieser Richtung zu stillen vermag, wenn auch kaum in genügender literarischer Qualität.
Die Schriftstellerin Lislott Pfaff hat mir Ende September 2005 das Folgende geschrieben: „ Übrigens lese ich momentan den 1. Potter-Band in der Originalsprache. Ich finde die Schreibe von Joanne K. Rowling deshalb so gut, weil sie einen witzigen Stil hat und z. B. das Leben in einem englischen Vorort mit den sauberen Vorgärten und den bünzligen Bewohnern so herrlich darstellt. Aber das ist sicher nicht der Grund für ihren Erfolg – oder höchstens ein nebensächlicher. Denn ich glaube, dass die jungen Leser − neben dem Zauber-Klimbim − vor allem fasziniert sind vom Wandel eines armen, ausgegrenzten Buben zu einem erfolgreichen Zauberlehrling und schliesslich zu einem berühmten Star, auch wenn das mit Hilfe von Zaubereien geschieht. Die Potter-Bücher haben also sehr wohl eine soziale Komponente, die man nicht unterschätzen darf. Ich glaube, das war der Grund für den ganz grossen Coup der Rowling. Ich mag ihr das auch gönnen.“
Wenn das, was offenbar gut gemacht ist – ich gebe auf Lislott Pfaffs Urteil viel –, gerade auch noch einer breiten Förderung des Lesens dient, dann ist dies ein begrüssenswerter Effekt. Dieses Lesen erschliesst den Menschen neue Welten in einer Gründlichkeit und Intensität, wie das sonst kaum möglich ist, höchstens durch dokumentarische Natursendungen im Fernsehen oder Kino. Hermann Hesse bezog sich auf den Rest und sagte es so: „Von den vielen Welten, die der Mensch nicht von der Natur geschenkt bekam, sondern sich aus eigenem Geist erschaffen hat, ist die Welt der Bücher die grösste.“ Es sind also Geisteswelten, die gleichermassen der Unterhaltung wie der intellektuellen Fortentwicklung dienen.
Globalisierungsfolgen im Keimlingsstadium
Die Auswahl an Büchern ist riesig, und was davon zu Bestsellern wird, sagt mehr übers Publikum als über die Autoren aus. Es gibt Themen, die konsumreif und reif für grosse Diskussionen sind, und solche, die erst das Keimlingsstadium erreicht haben. Die Aspekte rund um die Globalisierung, Regionalisierung („Glokalisierung“) und der davon betroffene Lebens- inkl. Ernährungsstil, Arbeitslosigkeit und politische sowie soziale Unzufriedenheiten und Unruhen gehören zu den Keimen, die immer deutlicher wahrzunehmen sind. Doch sind sie noch kaum ins öffentliche Denken eingedrungen. Und es wurde von den breiten Massen noch kaum erfasst, was alles zu den Folgen der verhängnisvollen neoliberalen Globalisierung gehört, obschon es nahe liegt:
- Fusionen in der Wirtschaft, die zu Betriebsschliessungen (inklusive zum Lädelisterben) führen;
- Masslose Rationalisierungen, die Arbeitsplätze über jedes vernünftige Mass hinaus vernichten;
- Jugendunruhen – die an den Rand gedrängten Kinder ohne Aussicht auf Arbeit und Einkommen müssen randalieren, um überhaupt wahrgenommen zu werden, nicht allein in den Vororten von Paris;
- Vorzeitig ausrangierte ältere Menschen stranden in den Arztpraxen und in der Psychiatrie, weil sie zum Randalieren nicht mehr so gut geeignet sind;
- Vernichtung von kleinbäuerlichen Strukturen in der Landwirtschaft (Bauernsterben) und – damit verbunden – die
- Ausräumung von Landschaften und die Zerstörung der ökologischen Vielfalt;
- Förderung der abenteuerlichen, naturschädigenden Genmanipulationen (Verschandelung des gewachsenen genetischen Potenzials). Und bei Genmanipulationen im Labor können neue Viren entstehen.
- Zerfall der Produktequalitäten ausserhalb der reinen Technikerzeugnisse, auch bei Nahrungsmitteln;
- Folgenschwere Chemisierung aller Lebensbereiche (Agrochemie und Medikamente); die artfremden, naturfernen Massentierhaltungen bedingen einen ständigen Einsatz von Medikamenten, vor allem Antibiotika, und begünstigen Seuchen.
- Erosion der körperlichen Widerstandskräfte, Krankheitsanfälligkeit und ständiger Anstieg der Krankheitskosten;
- Die Vereinheitlichungen führen zur Dezentralisierung und erzeugen immer mehr Verkehr, auch Kommunikationsbedürfnisse mit den entsprechenden Umweltauswirkungen (Energieverbrauch, Abgase, Elektrosmog);
- Die sozialen Auswirkungen und Ungleichgewichte erzeugen Unbehagen, Unruhen bis hin zum Terrorismus, und dies wiederum führt zu einem
- Ausbau der polizeilichen und staatlichen Überwachungsmassnahmen und damit zur Einschränkung der Freiheitsrechte der Menschen.
- Fusionen auf Länderebene (Stichwort: EU) sind mit einem Abbau demokratischer Einflussnahmen durch das Volk verbunden (Demokratieabbau) = Hinwendung zu zentralistisch geführten Überstaaten.
- Die Privatisierung der öffentlichen Dienste (Wasser, Verkehrsbetriebe, Schulen, Krankheitswesen, Kommunikationsanlagen usf.) führen ebenfalls zu Verlusten an demokratischen Einflussnahme-Möglichkeiten.
- Der Bildungszerfall lässt das Volk zur verblödeten Manipuliermasse werden.
- Die Trennung von Information und Werbung in Verbindung mit bewussten Desinformationsstrategien und dem Bildungszerfall führen zu einer Orientierungslosigkeit.
- In der Wirtschaftskonzentration ist die Medienkonzentration inbegriffen. Die Medien sind fest ins Globalisierungsgeschehen eingebunden und können sich keine kritische Information leisten, welche diese Vorgänge hinterfragt.
Selbstverständlich ist das nur eine rudimentäre, unvollständige Zusammenstellung, die eine Differenzierung verdienen würde; ich habe das in meinem Buch „Kontrapunkte zur Einheitswelt“ getan. Doch selbst 240 Buchseiten reichen nicht aus, um die Zusammenhänge und die Folgen rund um den Trend zur Einheitswelt hinreichend aufzuzeigen.
Solche Themen, denen unser Verlagsprogramm gilt, sind zurzeit noch von einer gewaltigen Spasskultur überlagert und eingenebelt, die neben den vorherrschenden Gewinnabsichten auch die Aufgabe wahrnimmt, die breiten Massen bei (Kauf-)Laune zu halten und vom Wahrnehmen der desolaten, unhaltbaren Zustände im globalen Dorf abzuhalten.
Aufrüttelnde Bücher
Die 3 bisher vorliegenden Verlagsobjekte aus unserem Textatelier.com-Verlag sind geeignete Mittel, um Breschen in die Phalanx der Ignoranten zu schlagen. Im Buch „Bözberg West“ von Heiner Keller, dessen Erscheinen am Morgen des 1. Oktobers 2005 bei der Linner Linde gefeiert worden ist, werden die heutigen, zur Einebnung beitragenden Vorgänge am Beispiel einer noch weitgehend ländlichen Landschaft zwischen den Grossstädten Basel und Zürich beschrieben. Und das Buch „Richtig gut einkaufen“ von Heinz Scholz, dessen Erscheinen am 4. November 2005 in einem Grünkernladen in Schopfheim D Anlass eines besinnlichen Feier-Abends war, zeigt die Vorzüge der Lebensmittelproduktion in der Nähe auf: Überblickbarkeit, persönliche Bezüge zum Herkunftsort und zu den Produzenten und die damit verbundenen Chancen zu Kontrolle und Einflussnahme durch den Verbraucher. Das Werk wirbt für eine Abkehr von den globalisierten, industrialisierten Nahrungsmitteln, die kaum noch Lebensmittel sind.
Rita Lorenzetti, die schon zahlreiche tiefsinnige Feuilletons und Blogs fürs Textatelier.com geschrieben hat, stellte fest, dass die beiden ersten Vernissagen unter starken, breitkronigen Bäumen stattfinden (die „Kontrapunkte“-Feier war am 29. April 2005 unter der riesigen Platane im Bibersteiner Schlosshof). Die Kraft, welche die imposanten Bäume auf uns Menschen übertragen, können wir auch bei unserem verlegerischen Schaffen brauchen. Sie haben Funktionen des Schutzes (wie die Hausbäume) und der Geselligkeit, insbesondere die Linde.
Wir wollen tatsächlich bestehende Werte bewahren, schützen und einen Beitrag dazu leisten, dass aus der Vermassung eine neue Form von einer individuellen Geselligkeit wird, in welcher der verantwortungsbewusste Individualismus aufblühen kann – ohne Einbindung in eine bestimmende Gemeinschaft, welche die Entfaltung behindert. Jedermann soll seine sozialen Netze nach den eigenen Bedürfnissen knüpfen können.
Unsere darauf fussenden bisherigen Verlagserfolge haben die Erwartungen übertroffen: Mein Anti-Globalisierungsbuch findet auch in Deutschland einen sehr guten Absatz, das Bözberg-Buch ausserhalb der mit der Region verbundenen Menschen auch bei Planern und ökologisch interessierten Menschen, der Einkaufsführer in Reformhäusern und Bioläden und bei Gesundheitsinstitutionen.
Das sind Zeichen dafür, dass die Globalisierungs-Diskussion allmählich aus dem Tiefschlaf erwacht und die betroffenen, beengten Menschen hellhörig werden. Aus den Keimen werden zweifellos bald einmal stattliche Bäume. Das langsame, gesunde Wachstum ist im Textatelier unverkennbar.
Walter Hess