Textatelier
BLOG vom: 13.01.2006

Heinrich Harrer: Die Zivilisation hinter sich gelassen

Autor: Heinz Scholz
 
Der legendäre Bergsteiger, Entdeckungsreisende und Zivilisationskritiker Heinrich Harrer, der am 7. Januar 2006 im Alter von 93 Jahren in Kärnten starb, wurde von der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ FAZ als „der letzte Abenteurer von wissenschaftlichem Rang“ bezeichnet. Heinrich Harrer durchstieg als Erster die Eigernordwand und nahm an der deutsch-österreichischen Nanga-Parbat-Expedition teil. Zahlreiche Entdeckungsreisen führten ihn nach Südamerika, Afrika, Borneo und Neuguinea. Während eines Indienaufenthaltes wurde er vom Ausbruch des Zweiten Weltkrieges überrascht und von den Engländern inhaftiert. Nach der Flucht aus einem Lager verbrachte er 7 Jahre in Tibet. Dort wurde er zum Freund, Lehrer und Fluchtbegleiter des Dalai Lama. Sein Buch „Sieben Jahre in Tibet“ wurde zum Bestseller mit einer Auflage von 4 Millionen Exemplaren. Es wurde in 40 Sprachen übersetzt. 1996 verfilmte Jean-Jaques Annaud das Buch mit Brad Pitt und David Thewlis in den Hauptrollen.
 
In meiner Jugend las ich damals schon mit Begeisterung von seinen Bergsteigererlebnissen. So war mir das Buch „Die Weisse Spinne“, das die Geschichte der Eigernordwand wiedergibt, noch gut in Erinnerung. Vor einigen Jahren konnte ich eine Ausgabe von 1961 auf einem Flohmarkt ergattern. Und da begann ich wieder in diesem Buch zu lesen und stellte fest, dass es in keiner Weise an Aktualität und Faszination verloren hatte.
 
In seiner faszinierenden Autobiographie „Mein Leben“ (Ullstein Verlag, München 2002) sind etliche interessante Anekdoten zu finden. Einige davon möchte ich Ihnen mitteilen.
 
Schnaps und Zigarillos für einen 96-Jährigen
Heinrich Harrer schenkte jedes Jahr seinem Kameraden Anderl Heckmair (er war damals bei der Erstbesteigung der Eigernordwand dabei) einen Karton Zigarillos der Marke „Toscanelli“. So war dies auch zu seinem 96. Geburtstag. Zur gleichen Zeit erhielt das „Geburtstagskind“ von seinem Leibarzt aus Oberstdorf einen Karton Schnaps. Der Arzt schrieb dazu Folgendes: „Damit das Nikotin von deinem Freund Harrer neutralisiert wird, schenke ich dir den entsprechenden Schnaps dazu.“ Und wie reagierte Anderl Heckmaier? Er meinte in seinem trockenen Humor: „Siehst, das ist ein Doktor!“
 
200 Rollen Film
Ein Bildredakteur des Magazins „National Geographic“ lud Heinrich Harrer in die geheiligten Redaktionsräume in Washington D.C. zu einer Besprechung ein. Die Herren planten eine Geschichte über seine Forschungsreisen. Ein Nachfahre des Gründers, Melville Bell Grosvenor, stellte Heinrich Harrer mit folgenden Worten seinen Redakteuren vor: „Das ist der Mann, von dem wir im Juli-Heft (1953) mit 50 Seiten die Coverstory bringen und nur 2 Rollen Film zur Verfügung hatten.“ Dann fügte er noch hinzu, dass seine Fotografen für ihre Aufträge 200 Rollen bekämen. Obwohl nur wenige Fotos zur Verfügung standen, wurde die Story trotzdem gedruckt.
 
Gastgeberin schaute lieber Fernsehen
Stellen Sie sich einmal Folgendes vor: Ein Verleger lädt zu einer Vernissage ein, an dem die Bücher seiner Autoren in einem illustren Kreis vorgestellt werden. Nach kurzer Zeit entschuldigt sich der Verleger mit den Worten: „Ich muss unbedingt eine wichtige Fernsehsendung zur Globalisierung sehen.“ Dann rauscht der Verleger davon, und die Gäste haben das Nachsehen. Oder: Während meiner Buchvernissage in Schopfheim hätte ich verschwinden können mit der Begründung: „Ich muss unbedingt das Fussball-Länderspiel zwischen Deutschland und Brasilien sehen. Tut mir leid, aber als Fussballfan darf ich das nicht versäumen.“
 
Sie meinen, das würde nie geschehen; so etwas leiste sich doch niemand. Aber genau das geschah anlässlich der Präsentation der Sonderausgabe „Seven years in Tibet“ (1953) durch den amerikanischen Buchklub in New York. Hier kam es zu einem ungewöhnlichen Vorfall. Die Gastgeberin, Frau Löw, die zuvor alle wichtigen Personen vorgestellt hatte, darunter auch die Literaturnobelpreisträgerin Pearl S. Buck, erklärte kurz darauf, sie müsse jetzt die Party verlassen, da sie unbedingt eine weitere Folge der Fernsehsendung „Roger und Hammerstein“ ansehen wolle. Die Gastgeberin rauschte aus dem Saal und liess die Gäste am kalten Buffet zurück.
 
Mutters grosser Rucksack
Als begeisterter Bergsteiger hatte Heinrich Harrer immer 2 Rucksäcke. Der kleinere ohne Aussentaschen wurde zum Klettern mitgenommen, der grosse, bis zu 40 Kilogramm fassende, enthielt alles, was man zum Selbstversorgen auf unbewirtschafteten Schutzhütten so brauchte. Bevor der Sohnemann zur Eigernordwand aufbrach, packte die Mutter ein ganzes Kornbrot, Äpfel und eine mit Butter beschmierte Doppelscheibe Brot in den grossen Rucksack. Am ersten Tag der Besteigung der Nordwand wurde im „Schwalbennest“ das Butterbrot verzehrt. Aber lassen wir Heinrich Harrer selbst erzählen: „Im 3. Biwak am oberen Rand der ‚Spinne’, wo eine Rückkehr undenkbar geworden war, warf ich alles an Reserve, auch den Brotlaib, die Wand hinunter, und für die Nacht hängte ich den kleinen Rucksack an unser Standseil. So konnte ich die in der Luft baumelnden Füsse in den Sack stellen. Für die inzwischen halb erfrorenen Zehen wurde dies zur Rettung.“
*
Heinrich Harrer führte immer ein gesundes und einfaches Leben. Dieses Leben gab ihm die nötige Kraft, um körperliche Höchstleistungen zu vollbringen und auch ein zufriedenes und gesundes hohes Alter zu erreichen.
 
„Wenn ich die Zivilisation hinter mir lasse, fühle ich mich sicher“, beschrieb er einmal seine Gefühle bei seinen Forschungsreisen. Des Weiteren sagte er folgende bemerkenswerte Sätze: „Ich hatte noch das grosse Glück, Menschen zu begegnen, die mit ihrem einfachen Dasein zufrieden waren und Hass und Neid, wie sie zu unserer viel gepriesenen Zivilisation gehören, nicht kannten.“
 
Ein glücklicher und zufriedener Mensch ist jetzt von uns gegangen. Es bleibt zu hoffen, dass wir alle ein bisschen von ihm lernen können.
 
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