Textatelier
BLOG vom: 26.04.2006

Fenster – Ein- und Ausblicke nach innen und aussen

Autor: Emil Baschnonga
 
Jetzt bleiben die Fenster tagsüber länger geöffnet, und die Vorhänge werden später, wenn überhaupt, gezogen. Licht strömt ins Haus. Wie die Fenster sind auch unsere Augen erwartungsvoll geöffnet. Der Ausblick durchs Fenster wird belohnt: Ranken und Sträucher kleiden sich wieder festlich und treiben Blüten; der Rasen grünt, grast sozusagen. Alles schön der Reihe nach – so will es die Natur. Nach den Osterglocken kommen die Tulpen. Die Lilien steigen erwartungsvoll empor, das Vergissmeinnicht macht sich breit. Die Knospen der Reben an der Südmauer schwellen wie … Wie? Die Gedanken schwelgen. Alles braucht nicht gesagt zu werden.
 
Die Fenster nehmen wir als selbstverständlich hin. In England öffnen sie sich nach aussen, in der Schweiz nach innen. Die bei den Schweizern beliebten Geranien auf dem Fenstersims lassen sich so durchs Fenster leicht erreichen und begiessen. Hingegen lassen sich in England die Vorhänge mühelos auch beim offenen Fenster ziehen. Der Engländer kennt keine Fensterläden, denn mit den sich nach aussen öffnenden Fenstern wären sie sinn- und zwecklos.
 
Die in England noch immer beliebten Schiebefenster sind gewiss praktisch, aber brauchen viel Wartung. Meines, damals im Boarding House in London, klemmte arg und rattelte bei jedem Windzug. Im Winter musste ich Zeitungen zwischen die Fugen stopfen, um nicht zu erfrieren. Ich hatte viel Ärger mit ihm.
 
Mein Vater hatte damals seinen Ärger mit den Vorfenstern. Im Spätherbst holte er sie vom Estrich, eins ums andere. Meine Mutter musste sie zuerst putzen, bevor sie der Vater mit viel Mühe einhaken konnte. Wehe, wenn er sie beim Aushängen im Frühling nicht nummeriert hatte … Ich habe ihn oft auf Romanisch fluchen gehört, wenn er nach dem passenden Vorfenster suchte. Sie lagen allesamt an einer Wand gestapelt. Der Schweiss troff ihm von der Stirne, weil er sie immer wieder umschichten musste, bis er das richtige Vorfenster fand. Es war ein Wunder, dass ihm bei solchem Kraftaufwand keines aus den Händen glitt und in die Tiefe stürzte.
 
Heute werden alte Fenster mit doppelt verglasten ersetzt. In unserer einstigen Dachwohnung in London war das Holz der Fenstereinfassungen und der Simse auf der Nordseite schwammig, und auf der Südseite morsch und brüchig. Wenn nicht das eine, musste ich das andere zuerst tüchtig schmirgeln, alsdann die Risse mit Kitt ausspachteln, die Deckfarbe darüber pinseln – und schliesslich einen Tag später (bei trockenem Wetter) den 1. und dann den 2. Weisslack-Anstrich darüber streichen. Diese Prozedur wickelte ich im Innenraum auf luftiger Höhe beim Fenster auf der Leiter stehend ab. Die Fensterscheiben und ich erwischten dabei viele Farbkleckse.
 
Beim Um- und Ausbau des alten Kutscherhauses, in dem wir jetzt seit 6 Jahren auf der anderen Strassenseite wohnen, waren die Fensterumrahmungen zum Glück aus Hartholz, und ich bestand darauf, „unverwüstbare“ Fenster einbauen zu lassen.
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Jetzt kann auch ich endlich die Fenster als selbstverständlich hinnehmen. Soll ich jetzt den Titel dieses Texts ändern und das Fensterthema einfach fahren lassen? Ich habe absichtlich die Wörter „Einblicke“ und „Ausblicke“ gewählt. Ich wollte nicht so weitschweifig und oberflächlich an den funktionellen oder den DIY-Aspekten (Do it yourself) haften bleiben. Denn vor und hinter dem Fenster verbergen sich künstlerische, wenn nicht gar philosophische Aussagen.
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Den Kunstmalern ist es immer wieder gelungen, das Fenster bedeutungsvoll ins rechte Licht und Verhältnis zu rücken, so den Franzosen Pierre Bonnard, Henri Matisse und Edouard Vuillard. Sie werden den Post-Impressionisten oder Nabi-Malern zugeordnet. Sanfte Lichteinbrüche durchs Fenster in den Raum bei halb gezogenem Vorgang wie in Vuillards Gemälde „Stickerin beim Fenster“ sind besonders stimmungsvoll.
 
Viele Fensterein- und -ausblicke stammen von Bonnard. Er hatte sein Studio in Le Cannet, oberhalb Cannes. Durchs Studiofenster hat er eine Prachtsmimosa gemalt, worüber des Betrachters Blick über den Hang bis zu den roten Dächern von Le Cennet hinab gleitet. „Atélier au Mimosa“ heisst dieses Meisterwerk. Sein Studio war klein und dürftig eingerichtet, doch durch dieses Fenster fand sein Pinsel die ihm vertraute und lieb gewonnene Umwelt. In einem anderen Bonnard-Gemälde ist der Tisch mit Feder und Tintenfass und einem Buch mit dem Titel „Marie“ eng ans Fenster gerückt. In diesem Bild flutet die Landschaft durchs Fenster ins Zimmer zurück, verankert sich im linken Fensterflügel und rechts beim Balkonvorsprung, wovon nur der Kopf einer Frau sichtbar in die Landschaft schaut.
 
Von Matisse stammt das Traumbild „Fenêtre à Tahiti” und ist im Musée Matisse in Nice (Nizza) ausgestellt.
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Fenster tun sich nicht nur vor unseren Augen auf. Eine Hülle und Fülle von Gedankenfenstern erwarten uns tagtäglich durch alle Jahreszeiten hindurch, auch in unserem Leben. Also diese Fenster jetzt voll und ganz öffnen, um frische Gedanken hereinzulassen. Aber vorsichtig: Dabei nicht aus dem Rahmen fallen.
 
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