Textatelier
BLOG vom: 09.05.2006

Zweitklässler fragten nach Schule und Leben von einst

Autorin: Rita Lorenzetti
 
Ort: Primarschule Limmatschulhaus im Zürcher Industriequartier.
 
Zweitklässler sitzen dem für sie alten, bärtigen Mann gegenüber. Primo, mein Ehemann, wurde eingeladen, über die Schule von einst zu berichten.
 
Kinder und Lehrerinnen halten sich die Ohren zu, als er zu Beginn auf einer Schiefertafel kritzelt. So tönte es früher in den Schulstuben. Schreiben lernte man zuerst mit dem Griffel. Je verkrampfter die Versuche gemacht wurden, desto grösser der Lärm. Erst später kam das Heft aus Papier dazu. Und die Tinte, diese Dokumenten sichere Flüssigkeit, die wir wohl alle einmal verflucht haben. Die Kinder staunen. Unsere Probleme kennen sie nicht mehr. Die Füllfeder hat sie alle gelöst. Primo zeigt den Federhalter mit der spitzen Feder und ebenso das Gefäss mit der Tinte. Er erzählt, wie die Schüler von damals auf Schuljahresende hin die Pultflächen mit Schleifpapier von Tintenspritzern befreien und sie neu einwachsen mussten. Er erzählt auch, dass den Kindern zu Hause das Tintengefäss umfallen und nicht mehr weg zu bringende Flecken verursachen konnte. In vielen Familien gab es Schelte wegen Tintenflecken in Tischtüchern und Teppichen. Das waren damals kleinere Katastrophen.
 
Und er hat Fotos auf Folien von den eigenen Klassenfotos mitgebracht, damit die Kinder sehen können, dass er am gleichen Ort zur Schule ging. Die Gruppe, damals 36 Schülerinnen und Schüler, stehen vor dem mit Steinhauer-Kunst gestalteten Brunnen. Ihn und seine Symbolfiguren erkennen sie sofort. Aber sie staunen über die Grösse der Klasse von einst. Die ihre umfasst nur noch 16 Personen, Kinder aus verschiedensten Kulturen.
 
Ein Zufall: Auch unsere Zweitgeborene kam seinerzeit in eine Wegmüller-Klasse. Primo wurde im ersten Klassenzug dieser Lehrerin und Letizia im letzten unterrichtet. Da waren es noch 27 Schülerinnen und Schüler und bereits 22 aus ausländischen Familien und nur noch 5 Schweizer Kinder.
 
Die Foto von 1947 zeigt Buben und Mädchen, die heute als „Kids“ bezeichnet würden, wenn die Jahreszahl zur Foto fehlte. Offene, witzige, selbstbewusste Persönlichkeiten schauen einen an. Ein Bub könnte ohne weiteres als Harry Potter durchgehen. 2 Knaben tragen einen Veston (den „Tschope“), weil die Lehrerin informiert hatte, dass der Fotograf kommen werde. Wer es nicht vergass, das bevorstehende Ereignis zu Hause zu melden, kam in den so genannten Sonntagskleidern daher.
 
Sonntagskleider, äääh, was ist das?
 
Dann jaulen sie auf, als Primo auf den lustigen Bub hinweist, den er selber war. Und sofort stellen sich Fragen: Warum tragen diese Kinder Bergschuhe? Die Foto entstand im Winter. Fast alle Kinder tragen hier schwere Bergschuhe, das war üblich.
 
Was sind das für komische Hosen? Knickerbocker. Und die Knaben, die keine Knickerbocker anhaben, was tragen sie? Kurze Hosen durchs ganze Jahr und im Winter darunter wollene Strümpfe. Gab es denn noch keine Jeans? Nein, noch lange nicht.
 
Warum tragen einige Mädchen eine Schürze? Die Kleider mussten geschont werden. Eine Schürze aus Baumwolle war einfacher zu waschen als ein Kleid aus Wollstoff.
 
Warum tragen 2 Knaben ein Veston? Früher gab es keine eigentliche Kinderbekleidung. (Diese wurde erst in den 70er-Jahren entworfen und eingeführt.)
 
Eine 2. Foto von 1946 zeigt die Klasse im Frühjahr. Einige Knaben tragen keine Socken, stecken barfuss in den Schuhen. Das wird auch rasch bemerkt. Warum strickte die Mutter keine Socken? Diese Frage tönt sehr fordernd.
 
Eine weitere Foto vom einstigen Schulhof verwirrt zuerst. Heute sind dort Sandkasten und Spielgeräte installiert. Früher fanden hier Ballspiele statt. Der Raum sieht jetzt viel kleiner aus und hat doch seine Masse behalten. Eine weitere Aufnahme kann sofort eingeordnet werden. Lautstark kommt jeweils die Zustimmung.
 
Es entwickeln sich noch andere Fragen. Hatten Sie Schwimmunterricht? Ja, aber nicht im Hallenbad. Nur im See. Wouw! Und zu Hause hatten nicht alle Familien eine Badewanne. Darum ging man am Samstag ins öffentliche Bad im Limmathaus und badete dort in einer Badewanne. (Dieses öffentliche Bad gibt es immer noch.)
 
Wo schliefen Sie? In der Stube. Die beiden Betten für meinen Bruder und mich waren tagsüber Sofas. Am Abend bedeckte Mutter diese mit Leintuch und Bettzeug. Wenn Besuch da war, mussten wir warten, bis dieser weg ging, damit wir schlafen konnten.
 
Ein solches Bett haben wir auch, aber im eigenen Zimmer, tönt es aus mehreren Ecken.
 
Schliefen Sie auch im Pyjama? Nein. Wir kannten nur das Nachthemd. Ein Hemd, das viel länger war, als das gewöhnliche Männerhemd.
 
Hatten Sie Fernsehen? Es war noch nicht erfunden.
 
Hatten Sie Elektrizität? Ja. Dafür mussten wir Münzen in einen Apparat werfen. Und dann ging manchmal plötzlich das Licht aus, weil wir vergessen hatten, wieder Geldstücke einzuwerfen.
 
Ein Mädchen aus dem Balkan sagt dazu, sie kenne das. In ihrem Dorf würde das Licht oft ausgehen. Sie macht dazu eine abfallende Bewegung. Da müsse man warten. Auf einmal komme es zurück.
 
Was mich erstaunt: Es werden keine Fragen nach Strafen gestellt. Z. B.: Mussten Sie auch Strafaufgaben machen?
 
Das Interesse an der Kleidung ist sehr gross.
 
Primo hatte sich noch vorbereitet, den Kindern vom weiteren Umfeld dieses Schulhauses zu erzählen, doch da war die Zeit schon um.
 
Er wollte ihnen beschreiben, wo die Eisenbahnwagen mit den Südfrüchten aus Italien ankamen. Wenn beim Ausladen angefaulte Früchte entdeckt wurden, schnitten freundliche Arbeiter den schimmligen Teil weg und verschenkten die andere Hälfte einem Kind. Orangen waren damals exotische Früchte und Luxus. Kein Wunder, dass die Schüler gerne an diesem Ort herumschlichen.
 
Zu Primos Erinnerungen gehört auch die Ankunft eines Walfisches auf offenen Güterwaggons der SBB im Bereich Sihlquai. Gegen ein Eintrittsgeld durfte er besichtigt werden. Er stank fürchterlich.
 
Und zu den Zeiten des 2. Weltkrieges musste auch Primo mit seiner Mutter im Limmathaus jeden Monat die Karte mit den Bons abholen, die die Familie berechtigte, Brot und andere Lebensmittel einzukaufen.
 
Und unauslöschlich präsent sind ihm die Kirchenglocken geblieben, die in der ganzen Stadt läuteten, als der Krieg zu Ende war. Es wurde ihnen dazu gesagt, dass jetzt überall auf der ganzen Welt – und damit meinte man wohl in ganz Europa – die Friedensglocken läuten würden.
 
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