Textatelier
BLOG vom: 07.06.2006

WM-Kuriositäten: Halbzeitpizza, Fussballwurst, Knusper-Ball

Autor: Heinz Scholz
 
Die Manager der Lebensmittelindustrie hatten zur bevorstehenden Fussball-Weltmeisterschaft die kuriosesten Ideen, ihre Produkte an den Mann bzw. an die Frau zu bringen. Auch die Buchverlage nutzten die Gelegenheit, ihre maroden Verkaufszahlen aufzumotzen, in dem sie Bücher rund um das runde Leder und Kochbücher für Fans auf den Markt warfen. Rechtzeitig erschienen die Bücher „Die besten Snacks & Drinks zum Anpfiff“ und „Die 100 wichtigsten Lebensmittel“. Das zuletzt genannte Werk stammt vom Apotheker Siegfried Schlett. Das Buch enthält viele Vitalrezepte, die der Fernsehglotzer braucht, um einigermassen fit zu bleiben. Denn der gestresste Fan wird ja in dieser Zeit ungesund leben und seinen Bluthochdruck in ungeahnte Höhen treiben. Nach meiner Meinung helfen hier nur eine gesunde Ernährung, Beruhigungsmittel aus dem Pflanzenreich und Magnesium. Aber das nur am Rande.
 
„Wir sind für das Spiel bereit!“
Der Schweizer Konzern Migros, der inzwischen auch einige Geschäfte in Deutschland hat, bietet in einem bunten Prospekt alle Sonderangebote vom 6. bis 17. Juni 2006 mit der Schlagzeile „Wir sind für das Spiel bereit!“ an. Da wimmelt es nur so von Fussbällen zwischen den offerierten Produkten. Das Highlight ist eine Fussball-Fanbox mit saftigen Bratwürstl, Senf und eine Deutschland-Fahne. Beim Verspeisen dieser Fussballwurst darf dann getrost schon mal die Fahne geschwenkt werden.
 
In anderen Lebensmittelgeschäften entdeckte ich das Stiel-Eis „Fussball“ von Langnese für 80 Cent, dann eine „Halbzeitpizza“ von Dr. Oetker für 1,99 Euro. Die scharf gewürzte Pizza ist mit Bratwurst, Röstzwiebeln, Tomaten, Käse und Currysauce „weltmeisterlich“ belegt. Da kommt einem bei aller Hitze das kalte Grausen.
 
Müller bietet die „Ecke des Monats“ für 49 Cent an. Es handelt sich hier um ein Joghurt mit Apfel-Vanille-Geschmack. In einem gesonderten Fach der aufwändigen Packung kullern schokolierte „Knusper-Balls“ herum. Der Fan kann dann die „Bälle“ in den Joghurt hineinkicken und alles genussvoll verzehren. Bei spannenden Spielen schaut er bestimmt gebannt auf den Bildschirm und weiss dann wohl nicht mehr, was er sich einverleibt hat.
 
Dickmann wollte einmal die normalen Schokoküsse aufmotzen, und das gelang den Burschen ganz gut. Die neueste Kreation sind „Deutschlandküsse“. Auf den Küssen findet man rote und goldene (eher gelbe) Streusel. „Sieht nicht nur toll aus, sondern schmeckt auch. Schokoladig und knackig“, resümiert Sven Meyer in einem Artikel der Zeitschrift „Der Sonntag“ am 4. Juni 2006.
 
Aber damit noch nicht genug: Die Firma Nordsee brachte „WM-Lachsburger“ (ich wollte schon schreiben: „Lachburger“) auf den Markt. Die Lachs-Frikadelle enthält Lachs, Röstzwiebeln und Remoulade.
 
In einem Lebensmittelfrischmarkt in Schopfheim D entdeckte ich vor einigen Tagen einen Fussball, der mit Süssigkeiten gefüllt war. In einer Sonderverpackung wurde die Kinderschokolade von Ferrero angeboten. Auch die Bäckereien wollten nicht im Abseits stehen und entwickelten Fussballtorten und anderes „fussballverrücktes“ Gebäck. Im Getränkehandel sind Fan-Boxen mit diversen Getränken (Caipi für die Brasilianer, Kräuter für die Deutschen usw.) zu bekommen.
 
Unterwäsche aufgepeppt mit Starabbildungen
Bei Fussballereignissen aller Art werden die Fans zur Kasse gebeten. Diese lassen es sich gerne gefallen, wenn sie Fan-Artikel kaufen können. Im Bekleidungsprospekt von Walbusch ist Folgendes zu lesen: „Die Vorfreude auf die Fussball-WM ist gross. Wenn Sie sich stilecht zum Sport-Ereignis des Jahres einkleiden möchten, dann finden Sie auf dieser Seite die richtigen Accessoires von Adidas“ (atmungsaktive leichte Fantrikots in Anlehnung an das Original der Gastgeber-Mannschaft, FIFA-Badepantoletten, DFB-Baseballkappen usw.).
 
Es sind jedoch noch ganz andere Fanartikel zu bekommen. So gibt es beispielsweise WM-Maskottchen, Kaffeetassen, Bettwäsche und Unterwäsche mit den Abbildern der „Fussballgötter“, WM-Fussbälle, einen Speedmesser (hier kann jeder die Schussgeschwindigkeit beim Fussball ermitteln) und Fussballkronen mit den Konterfeis der Nationalspieler, die sich die Fans aufsetzen können. Ulkig anzusehen sind kuriose Hüte und so genannte Tropfenfänger in Form eines Fussballs. Diese balligen (neue Wortschöpfung eines Bloggers!) Tropfenfänger sah ich während eines Vorbereitungsspiels unter den Zuschauern. Da wiehert nicht nur das Clownherz.
 
Aber es gibt auch Fahnen (ich meine nicht etwa die Alkoholfahnen). Mein Nachbar, der bisher keinerlei Fussballeuphorie an den Tag legte, schmückte seinen Balkon mit diversen Deutschlandfahnen. Eine grosse Fahne brachte er an der Balkonbrüstung an und 5 weitere, kleinere Fahnen wurden in Balkonkästen gesteckt. Ich traute ihm so einen Nationalismus gar nicht zu.
 
Ich selber lehne solche Dinge strikt ab, auch das Singen der Nationalhymnen vor den Spielen finde ich nicht mehr zeitgemäss. Ich bin auch kein Freund der gnadenlosen Kommerzialisierung des Sports, des Starkults und der masslosen Gehälter, die Sportler, Trainer und Funktionäre einsacken.
 
Soeben kam eine Sendung im Fernsehen über die WM-Nahrungsmittel. Da wurde eine Fabrik gezeigt, die WM-Nudeln und WM-Salami herstellte. Die Salami reifte in Stoffschuhen (sie sahen aus wie Socken), die in den Nationalfarben gehalten waren, heran.
 
Die wohl nationalistischste Meldung war in der „Badischen Zeitung"  vom heutigen 7. Juni 2006 zu lesen. In Steinen-Höllstein wurde die Fassade von Marco Eichners Haus passend zur WM in den Deutschlandfarben gestrichen. Was wird der Maler wohl tun, wenn sich Deutschland vorzeitig von der WM verabschiedet? Er muss wohl umstreichen.
 
Oasen für WM-Muffel
Wer kein Interesse am WM-Fussball hat, der kann Stringtangas, Trikots und Shirts mit der Aufschrift „WM-HASSER“ kaufen (www.wmhasser.de). Es gibt also für jeden etwas.
 
Für WM-Muffel wurden jetzt überall so genannte Oasen eingerichtet. So bieten laut „Schweiz Tourismus“ Schweizer Naturburschen den WM-Witwen ihre Dienste an (siehe Blog vom 23. 4. 2006). Auch die Belchenland Tourismus GmbH (www.belchenland.de) gewährt WM-Muffeln Asyl. Das im Südschwarzwald gelegene Schönau bietet Alternativen wie Nordic Walking und naturkundliche Führungen auf über 1400 Meter Höhe an.
 
Fussball-Muffel sind auch im Blogatelier weit überdurchschnittlich vertreten. Emil Baschnonga schrieb mir auf meine Anfrage über die fussballerischen Befindlichkeiten in London: „Ich werde mich tunlichst vom WM-Zirkus fernhalten, jetzt wo ich beruhigt weiss, dass Peter Crouch in Baden-Baden angenehm in Deutschlands längstem Bett (2,21 m) schlafen kann und Wayne Rooneys Fuss wieder einsatzbereit ist.“
 
Die Situation in der Schweiz schilderte mir ein weiterer Spitzensportmuffel, Walter Hess, in einer E-Mail. Hier seine Beobachtung: „In der Schweiz wird die Stimmung von allen eingebetteten Medien enorm angeheizt. Bei einem Training der brasilianischen Kicker in Weggis am Vierwaldstättersee, die Dehnübungen machten und hinter dem Ball trippelten, waren 720 Journalisten dabei, aber wieso es zu den Unruhen in Osttimor gekommen war, erklärte mir niemand. Es wird getan, als ob dieses Balltreten das Jahrtausendereignis sei... Es ist für mich unbegreiflich, dass solche Massenpsychosen (mit allen Folgen) inszeniert werden können. Ich bin gegen ein solches Mitläufertum immun.“
 
Höchste Sicherheitsstufe bei den US-Boys
Noch ein Wort zur Sicherheit. Deutschland wird während der Fussball-WM vom 9. Juni bis 9. Juli im Ausnahmezustand sein. Fast 300 000 Polizisten und bis zu 7000 Soldaten bietet Deutschland auf, um die WM abzusichern. Ich hoffe, dass es ein friedliches Fussballfest wird und die Hooligans und die Terroristen zu Hause bleiben. Die Ermittler haben insgesamt 7000 Hooligans im Auge. Besonders abgesichert ist das Quartier der Mannschaft aus den USA, der offenbar beliebtesten Nation der Welt ... Wie die „Berliner Morgenpost“ berichtete, sollen an Spitzentagen in Hamburg (dort befindet sich das Mannschaftsquartier und auch das Trainingsgelände der US-Boys) 2900 Polizisten im Einsatz sein.
 
Die Neonazis planen übrigens eine Solidaritätskundgebung für den Staatspräsidenten des Iran, Mahmud Ahmadinedschad, der Spiele der iranischen Mannschaft ansehen möchte, aber nur, wenn die iranische Nationalmannschaft die Vorrunde übersteht.
 
Wer wird Weltmeister?
Weltmeister könnte Brasilien werden. Die spielen den attraktivsten Fussball. „Wenn sie 80 Prozent von dem spielen, was sie können“, befand Ratinho, „werden sie Weltmeister.“ Ratinho wurde übrigens als „Zaubermaus“ des Bundesligaklubs 1. FC Kaiserslautern bekannt. Er wurde jedoch nie in das Aufgebot der brasilianischen Nationalmannschaft berufen.
 
Die „Berliner Morgenpost“ ist auch vom Titelgewinn überzeugt. Eine Schlagzeile im Internet lautete: „Brasilien hat nur Probleme, wenn der Ball fehlt.“ Fachleute haben jedoch eine Schwachstelle entdeckt. Es ist die Abwehr. Nun lässt Nationaltrainer Parreira die Deckungsarbeit trainieren.
 
Warten wir ab, was uns die Fussball-WM bringt. Auf jeden Fall werde ich die WM im Fernsehen verfolgen und sämtliche Daumen für die deutschen Kicker drücken. Sollten sie vorher ausscheiden (was viele erwarten), dann werde ich die vermeintlich schwächeren Mannschaften anfeuern.
 
Und noch ein Gedanke: Fussball war früher einmal die schönste Nebensache der Welt, dann wurde er gnadenlos kommerzialisiert. Aber, was solls? Der Kampf um den Ball auf dem grünen Rasen ist mir tausend Mal lieber als ein sinnloses Kriegsgemetzel.
 
Und zum Schluss noch ein Web-Fundstück (gesehen unter www.spiegel.de):
„Für Geld, da kannst du alles kaufen, auch Leute, die dem Ball nachlaufen.“
 
 
Infos im Internet
 
Buchhinweise
Schlett, Siegfried: „Die 100 wichtigsten Lebensmittel – Mit der richtigen Ernährung vor Krankheiten schützen“, Verlag Zabert Sandmann, 2006, ISBN 3-89883-147-7, 19,95 Euro.
Scholz, Heinz: „Richtig gut einkaufen. Die moderne Lebensmittelkunde für den Alltag“ (mit vielen Tipps zur gesunden Ernährung), Verlag Textatelier.com, CH-5023 Biberstein, Oktober 2005, ISBN 3-9523015-1-5, 1950 Euro (29,50 CHF).
Tschirner, Martina: „Die besten Snacks & Drinks zum Anpfiff“, Hölker-Verlag, 2006, ISBN 3-881177-03-5, 9,95 Euro.
Kistner, Thomas; Weinreich, Jens: „Das Milliardenspiel“ (Fussball, Geld und Medien), Fischer-Verlag, 1998, ISBN: 3-596-13810-8.
 
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