Textatelier
BLOG vom: 20.06.2006

Hybride Gefühle: Der Quantensprung ins neue Autozeitalter

Autor: Walter Hess
 
Im Grunde interessieren mich Autos mit Nichten und Neffen. Ich habe sie in der Landschaft immer als Störenfriede empfunden, vor allem der Infrastruktur wegen, deren sie bedürfen: Breite Strassen, welche die Landschaften zerschneiden, Parkplätze, die den Boden versiegeln und Wohngebiete verwüsten. Schon in den 1960er-Jahren habe ich gegen den zunehmenden, weil ausufernden Automobilismus angeschrieben. Aber das hat auch nichts gebracht.
 
Die ganzen Landesplanungen richteten sich aufs heilige Auto aus: Arbeiten, Wohnen und Einkaufen wurden aufgeteilt und dezentralisiert, Kleingewerbe (auch Läden) ähnlich wie die Landwirtschaft wegrationalisiert, und wer sich kein Motorfahrzeug hält, ist im Nachteil, wenn er nicht gerade in einer Stadt wohnt, wo die Blechbehälter eher zur Behinderung werden.
 
Da ich seit Jahrzehnten journalistisch tätig bin, war ich immer auf ein Motorfahrzeug angewiesen, um rasch an Orte des Geschehens zu erreichen, beispielsweise zur Flugzeugabsturzstelle in Würenlingen AG, wo 1970 ein Terroranschlag von Palästinensern zu einem Absturz einer Caravelle 990 führte, bei dem 38 Opfer zu beklagen waren. Ich hatte für die Presseagenturen SDA/Reuters Augenzeugenberichte durchzugeben und habe neben menschlichen Körperteilen auch eine Pistole auf dem Waldboden liegen sehen, unvergessene Bilder. Und am 10. April 1973 kam es in Hochwald SO, wo nach einem missglückten Landeanflug auf den Flughafen Basel-Mulhouse eine Turboprop der Invicta International Airways beim Weiler Herrenmatt in den verschneiten Wald abstürzte, zu einem ähnlichen Einsatz. Oft befinden sich die Objekte der Berichterstattung weit abseits, wo es keinen öffentlichen Verkehr gibt. Theoretisch kommt kein Platz ungeschoren davon. Meistens geht es für den Berichterstatter um Minuten, und früher gab es keine Handys. Man musste das nächste Telefon aufsuchen – und zwar sofort. So wurde ich zu einem Autofahrer wider Willen. Eine Zeitlang hatte ich einen Döschwo („CV“), und dann, wegen des Wunschs nach stabilem Blech um mich, einen Saab, dessen Motor sich bei Bergfahrten immer bedrohlich erhitzte, und seit 1987 einen kleinen Mercedes (190E), an den ich zufällig geraten war, als er noch eine neuwertige Occasion war.
 
Dieser Mercedes diente mir bis jetzt, fast 20 Jahre lang. Er wirkte fast etwas nobel, und trotzdem setzte ich ihn wie einen Traktor ein. Er hielt sich tapfer; doch das Leiden durch Schwerstarbeit, das ich ihm zugemutet hatte, hinterliess schon seine Spuren, obschon es ein ausserordentlich robustes Fahrzeug war. Beim Rückwärtsfahren auf dem eigenen Abstellplatz war einmal eine Hintertür etwas offen. Sie riss einen Wasserhahn weg; doch an der Tür war kein Schaden festzustellen, der Hahn wurde ausgerissen. Das nenne ich Qualität.
 
Und irgendwie gehörte es zu meinem Umweltbewusstsein, ein Auto auszufahren (das heisst: möglichst lange zu gebrauchen); denn die Autoproduktion verschlingt Unmengen Energie. Aber irgendwie musste ich bei all dem zurückhaltenden Gebrauch einsehen, dass dieser Mercedes nicht mehr mit den heutigen Umweltansprüchen in Übereinstimmung zu bringen war, auch wenn die Abgaswerte noch amtlich toleriert waren. Zudem meldeten sich bei ihm verschiedene Gebresten.
 
Ich bestellte einen Toyota Prius, ein Hybridfahrzeug (mit Benzin- und Elektromotor), das nur noch ein Drittel des Benzins (angeblich 4,3 l auf 100 km) säuft und auch sicherheitsmässig (bezüglich äussere und innere Sicherheit) hervorragend sein soll. Es wandelt die Bremsenergie in Elektrizität um, lässt beim Staustehen den Motor nicht rotieren, sondern wird dann zum reinen Elektrofahrzeug, das nur selbst produzierten Strom (Energie) braucht, wenn es sich bewegt.
 
Nach Ablauf der Lieferfrist von 6 Monaten wurde seine Ankunft dieser Tage von der Garage gemeldet. Während der Wartezeit hatte ich gelesen, der Prius sei in Hollywood zum Kultauto geworden. Und die „Welt am Sonntag“ (WAS) vom 18. Juni 2006 hieb unter dem Titel „Sparen geht eben nur mit Verstand“ in die gleiche Kerbe: „Die Schauspieler Leonardo DiCaprio, Cameron Diaz, Harrison Ford und der Musiker Sting lassen sich auf den Strassen von Hollywood am liebsten mit dem Toyota Prius sehen.“ Trotz alledem widerrief ich die Bestellung nicht. Vor allem wegen diesem WAS-Satz: „Wer von der Stretch-Limo in einen solchen ‚Green Car’ umsteigt, steuert gegen die Politik gegen Präsident Bush.“ Und genau das habe ich schon immer getan.
 
Der Autowechsel war ein Quantensprung: Eigentlich ist der Prius ein fahrender Computer (intelligente Technik), der jede Bewegung meldet, ständig am Kartenlesen ist, Kontaktschlüssel-Standorte kontrolliert, Motoren koordiniert und beim Rückwärtsfahren mit einer Kamera nach hinten schaut und das automatische Parkieren ermöglichen soll. Die Gebrauchsanleitungen, die besser strukturiert sein könnten, umfassen etwa 750 Seiten (gut für Leseratten) und sind noch immer nicht vollständuig. Und noch sind mir die Worte des Verkäufers Maurizio Imbimbo im Ohr, es sei fast unmöglich, alle die Möglichkeiten, die dieses Auto biete, auch nur einigermassen zu nutzen. Das erinnerte mich an die Excel-Software. Ich weiss bereits, wie man die Motorhaube öffnet.
 
Nachdem ich gestern am Navigations-Gerät hantiert hatte, begannen die Warnblinker zu arbeiten, und ich hatte keine Ahnung, wie sie abzustellen waren. Dank Handbuch fand ich den betreffenden Schalter unter dem Display, den ich versehentlich berührt hatte. So wird man langsam in die Geheimnisse eingeführt.
 
Der Wert unseres alten Autos war trotz hervorragender Pneus praktisch auf 0 (genau genommen auf 500 CHF) gesunken, und es wurde mir schmerzlich bewusst, dass technische Geräte keine Kapitalanlagen sind. Braucht man sie, nützen sie sich ab, braucht man sie wenig oder nicht, nagt der Zahn der Zeit an ihnen (Standschäden). Also tauschten wir das Auto ein, wenn man hier überhaupt von einem Tausch sprechen konnte, denn die Marktpreise unterschieden sich gewaltig. Wir reinigten unseren Traktor noch, entdeckten dabei hinter dem Hintersitz eine Notfall-Apotheke, die wir zum Glück nie gebraucht hatten. Und ich demonierte noch den Schiffskompass, den ich eingebaut hatte, um mich in unbekannten Gebieten, wo es keine Wegweiser mehr gibt, besser orientieren zu können; er ist durch das GPS-Empfangsgerät im neuen Auto überflüssig geworden.
 
Vor der Abgabe reinigten wir den Mercedes noch, ohne den eigentlichen Sinn dieses Tuns zu kennen. Damit der Shredder sauber bleibt? Wir hatten alle 4 Autotüren offen und den Staubsauger in Betrieb. Es war ein milder, windstiller Sommerabend. Und da kam ein einziger, plötzlicher Windstoss, der eine lichte Wolke von dürren Blättern von der nahen Trauerweide riss und diese über und ins Autos streute. An dieser Weide hängen ganzjährig dürre Blätter. Wir schlossen die Türen und den Kofferraumdeckel, um nicht noch einmal von vorne beginnen zu müssen. Doch erwies sich diese Massnahme als überflüssig. Es war bei dieser einen, einzigen Böe geblieben. Offenbar war das der Abschiedsgruss des Baums, der in Sichtweite vom gedeckten Autoabstellplatz steht, und offenbar hatten Baum und Auto einen guten Kontakt – im Sinne des Animismus, der Allesbeseeltheit. Der Mercedes selbst schien von seinem Schicksal, allenfalls in einem Shredder oder (im besseren Falle) irgendwo in Arabien zu landen, wenig begeistert zu sein. In den letzten Tagen hatte der Motor ein paar Mal unverhofft ausgesetzt, was sonst nicht vorgekommen war.
 
Irgendwie schien es mir bemerkenswert zu sein, dass man auch zu einem technischen Gerät, dem man sein Leben anvertraut und das einem auch viele Dienste leistet, Beziehungen aufbauen kann. Auch meine Frau sagte, sie habe gar keine guten Gefühle, dieses „liebe Auto“ wegzugeben. Man war mit ihm sozusagen intim vertraut, konnte es fast Zentimeter genau lenken, und abgesehen von einem Anlasserdefekt war es immer zuverlässig angelaufen, hatte uns nie im Stiche gelassen.
 
Aber manchmal triumphiert der Geist übers Gefühl, und wir haben nun ein besseres Umweltgewissen, das ja eigentlich nie hundertprozentig gut sein kann. Bei allem, was wir tun, greifen wir ins Gefüge ein. Und wenn ich diesen Bericht am Computer schreibe, brauche ich Elektrizität, weshalb ich hier abbreche.
 
PS: Meine Frau ging eben ins ferne Schinznach-Dorf zu einem Gartenkurs. Mit dem Velo, der Aare entlang. Das neue Auto sei ihr noch zu unvertraut, sagte sie. Und Velofahren sei ja so gesund.
 
Genau so ist es. Im Prinzip weiss man es schon.
 
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