Textatelier
BLOG vom: 05.07.2006

Kanton Jura: Ein Augenschein ganz am Rande der Welt

Autor: Walter Hess
 
Vor fast 20 Jahren, im Herbst 1986, hatte ich den Kanton Jura zum letzten Mal besucht. Der damalige Direktor der ehemaligen Aargauer Tagblatt AG, Walter Widmer, hatte mich zu einem Ausflug dorthin eingeladen, damit wir, losgelöst von der Alltagshektik, in einer ruhigen Umgebung wandernd, einige konzeptionelle Aspekte besprechen konnten. Es war ein schöner, ergiebiger Tag. Und kürzlich verspürte ich Lust, jenen hügeligen Zipfel im Nordwesten der Schweiz wieder einmal zu besuchen, zu geniessen. Die Landschaft ist grün, abgesehen von den Dörfern, die sich um die Kirche scharen, bezeichnenderweise. Wälder und Weiden sind zu einem unregelmässigen Mosaik zusammengefügt. Auf den saftigen Wiesen grasen Rindvieh und Pferde, die interessiert verfolgen, was um sie geschieht. Sie haben gern etwas Abwechslung.
 
Der historische Jura, also der Teil des ehemaligen Bistums Basel, wurde vom Wiener Kongress 1815 dem Kanton Bern zugeteilt, und das mehrheitlich katholische jurassische Volk fühlte sich dabei unter der reformierten Berner Herrschaft nie so richtig wohl. Es kam, angeführt vom Rassemblement jurassien unter dessen Generalsekretär Roland Béguelin, ab den 1950er-Jahren zu separatistischen Umtrieben, zu Unruhen, und seit dem 1. Januar 1979 ist der Jura endlich ein eigener, selbstständiger Schweizer Kanton: Freiheit, Unabhängigkeit und Kleinheit sind seine Attribute
 
„Il pleut la liberté!“ (Es regnet Freiheit) hatte der ehemalige jurassische Ständerat Roger Schaffter auf der Treppe des Kantonshauptorts Delémont (Delsberg) ausgerufen, nachdem unmittelbar nach dem Kantonsgründungsbeschluss der Regen fiel und die Freudentränen flossen. Und was es heisst, wenns im Jura regnet, habe ich während der Fahrt durch die Freiberge (District des Franches-Montagnes) erlebt. Ich suchte neben und unter einem grossen Feldgehölz bei Les Bois an einer Nebenstrasse Deckung, weil es wie aus Kübeln goss und leichter Hagel einsetzte; wir kamen glimpflich davon. Das Unwetter hatte sich etwas weiter südlich voll entladen. Und so etwas gehört zur Naturnähe.
 
Menschliche Eingriffe haben auch diese Landschaft beeinflusst: Moore und Teiche sind verschwunden (trockengelegt), Naturwälder wurden zu Plantagen. „Jura“ (Jorat, Joux) heisst im Keltischen Garten (jur, juris) – und oft genug überbordet das gärtnerische Tun, Veränderungen nach menschlichen Bedürfnissen erhalten Vorrang.
 
Besonders beeindruckt haben mich die schönen Jurakalk-Mäuerchen wie jenes am nördlichen Eingang von Montfaucon, die zur Hauptsache aus liegenden flachen Natursteinen bestehen und oben durch schräg aneinander gereihte Steine abgeschlossen werden, wie umstürzende Domino-Elemente.
 
Die Industrie hat sich in diesem 26. Kanton der Schweiz nicht zur dominanten Grösse entwickelt; sie ist eher von Kleinunternehmen geprägt – meistens spürt man überhaupt nichts davon. Auf dem Lande sind es die wuchtigen Bauernhöfe, die Schollenverbundenheit signalisieren: mächtig, flach und breit, nicht umzuwerfen und schmucklos, aber funktionell. Die Küche ist das Zentrum. Das Kulturnetz ist im Kanton Jura ähnlich diversifiziert.
 
Porrentruy (Pruntrut) ist mit seinen etwa 6600 Einwohnern das Wirtschaftszentrum der Ajoie und ein hübsches Städtchen obendrein – mit vielen Uhrmachern und monumentalen Brunnen. Die steil ansteigende Altstadt besteht im Wesentlichen aus Bürgerhäusern im gotischen, barocken oder neoklassizistischen Stil. Wir erfrischten uns bei einem Kaffee und einem Glas Wasser in einem Strassenrestaurant und wurden freundlich bedient.
 
Die Hinfahrt
Bei der Hinfahrt hatten wir uns dem Autopiloten anvertraut, der immer wieder einmal für Überraschungen gut ist. Er führte uns vor Laufen nach Röschenz der Lützel und der Landesgrenze entlang gegen Westen. Plötzlich ertönte ein Gong, und das Navigationssystem meldete, wir seien soeben in Frankreich angekommen („Sie haben soeben die Grenze passiert“). In der Folge wussten wir hier im Lützeltal zwischen den nördlichen Ketten des Faltenjuras nie genau, ob wir in der Schweiz oder in Frankreich seien. Diese internationale Strasse durchbricht viermal die Landesgrenze, weil die Strasse die zur Grenze gewordenen Windungen der Lützel (Lucelle) nicht mitmacht.
 
Es war gerade Mittag. Und da ich die von Genüsslichkeit geprägte französische Atmosphäre beim Mittagessen zu schätzen weiss, kehrten wir auf gut Glück ins Restaurant Relais de l’Abbaye (Abtei-Raststätte) ein, ein langer Massivbau beim Centre Européen de rencontres de Lucelle in F-68780 Lucelle, das fast nur aus Tourismusanlagen besteht. Ich bestellte „Le Menu“ und dazu etwas Bio-Edelzwicker („edle Mischung“) aus dem Elsass, wie es sich gehört.
 
Zur Vorspeise wurde rohes Rindfleisch, das noch Tiefkühlspuren aufwies und kaum mariniert war; gereicht; auch Salz und Pfeffer schienen gerade ihren freien Tag zu haben und abseits zu stehen. Bei Elsi Taugwalder (Rezept) habe ich das in weit verbesserter Zubereitung schon genossen. Aber der fruchtige Wein mit seinem unergründlichen Bouquet, an dem vielleicht auch etwas Gewürztraminer beteiligt war, schmeckte delikat, und die Stimmung im grossen Esssaal war herrlich, gelöst. An einem Tisch gegenüber sass mutterseelenallein ein Franzose mit der ausgeprägten, leicht nach unten gebogenen Nase, mit grau meliertem Haar und dunklem Anzug, der einen Berg frittierter Karpfenfiletstücke zu Pommes frites schmatzend genoss.
 
Nach der Vorspeise studierte ich eine Landkarte, um mich über unseren Standort und die Umgebung ins Bild zu setzen. Der erwähnte Nachbar stand auf, kam an unseren Tisch, schaltete ein kleines Wandlämpchen über meinem Essplatz ein, das ich übersehen hatte; er schuf bessere Bedingungen für mein Studium. Das war eine sehr nette Geste, die meine Wertschätzung der Franzosen neu belebte.
 
Inzwischen trug die mollige, barocke und hübsche Kellnerin den Hauptgang auf. Dieser bestand aus einem Kalbssteak (und nicht etwa Pferdesteak, wie man es in dieser Gegend in der Nähe der Freiberge sonst häufig antrifft) mit schönen Eierschwämmen, einer Rahmsauce, einem Geviert Gratin dauphinois, Blumenkohl, Bohnen und Rüebli – offenbar aus dem Steamer. Die etwas übertrieben knackigen Bohnen hätten noch eine oder zwei Minuten Garzeit durchaus ertragen; aber der Rest war einwandfrei. Wir genossen dieses Essen innerhalb der französischen Geräuschkulisse, die für mein Empfinden näher bei der Musik als beim Lärm ist.
 
Abschliessend wurde ein Nougat Glacé aufgetragen. Die kühle Rondelle mit den Nüssen befand sich in einem Biotop aus Vanillesauce, die mit einem Likör aus der Grand-Marnier-Ecke kräftig veredelt worden war.
 
Der Wirt, der sich als Charles Diss vorstellte, fragte bei seiner Runde von Tisch zu Tisch in einem angenehmen Elsässer-Deutsch, ob das Essen denn recht gewesen sei, und ich gab ihm, bei kleinen Einschränkungen, das Ja-Wort, um seine Laune nicht zu verderben. „Ist das Dessert hausgemacht?“ fragte ich zurück. „Nur die Sauce“, antwortete der Koloss, der sich auf unserem Tisch abstützte und fast so breit wie hoch ist, ehrlich. Er ist der Inbegriff eines Gastgebers oder Kochs, der sich lebhaft fürs Essen interessiert und probiert, genau wie es sein soll. Ihm liegt es offenbar sehr daran, seine Gäste (und sich selber) ausreichend zu ernähren und zu verwöhnen, was ihm einmal mehr gelungen ist.
 
Wir machten noch einen kleinen Verdauungsspaziergang in der Umgebung an der leicht betrübten Lützel und schauten in die Kirche herein. In einem der Glasmalereifenster entdeckte ich ein ähnliches Auge, wie es Sabine Hofkunst für unseren Verlag Textatelier.com als Logo gezeichnet hat. Und dann, nach etwa 30 Metern Fahrt, waren wir wieder in der Schweiz – eben im Kanton Jura.
 
Heimweg mit Abstecher nach La Chaux-de-Fonds
Vor dem Antreten des Rückwegs wollte ich noch einen Augenschein in der Uhrenstadt La Chaux-de-Fonds im angrenzenden Kanton Neuenburg nehmen. Diese ehemals stolze Stadt weit westlich des Bielersees macht heute einen etwas verwahrlosten Eindruck. Der wirtschaftliche Strukturwandel hat hier seit den 1970er-Jahren seine Spuren hinterlassen, und wahrscheinlich hat die dezentrale Lage eine Erholung verhindert.
 
Wenn eine Stadt ihre Vitalität verliert, kommt es allmählich zu Zerfallserscheinungen. Auf dem Lande aber empfindet man ähnliche Vorgänge als ein Zurück zu mehr Natur – Pflanzen und Tiere schliessen die Lücken, und der Erholungswert steigt auch für den Menschen.
 
Nicht auszudenken, was nach der Verstädterung kommen könnte, wenn nach der Landflucht dereinst die Stadtflucht einsetzen sollte.
 
Hinweis auf einen weiteren Ausflugsbericht
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