Textatelier
BLOG vom: 24.07.2007

Im Schamser Talmuseum: Existenzielles für Bergtalbewohner

Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Kirchen zeigen, was die Leute zu glauben hatten und noch immer haben, und Ortsmuseen bieten die Indizien dafür, wie die Menschen in früheren Zeiten lebten. Beides zusammen erlaubt rudimentäre Rückschlüsse auf die Zustände in vergangenen Zeiten mit ihren Annehmlichkeiten und Mühsalen. In Zillis GR im Schamsertal (Val Schons) an der Route Chur–Thusis–Splügen–Chiavenna/Italien gibt es nicht allein die berühmte Kirche mit den Holzdecken-Malereien, sondern seit 1970 auch ein gut bestücktes Talmuseum. Es befindet sich mitten im Dorf in einem typischen mittelbündnerischen Bauernhaus mit einer Durchfahrt zur Scheune für Heu und Getreide. Der Trakt, in dem das Museum untergebracht ist, wurde um 1580 ans anstossende ältere Haus, das um 1300 erbaut worden war, angegliedert.
 
Wir bezahlten 5 CHF Eintrittsgebühr pro Person und erhielten dafür eine fast einstündige Führung durch die vitale, geradezu jugendlich wirkende 78-jährige Magdalena Gabriel, deren Alter eigentlich nur in ihrem Erfahrungswissen von damals zum Ausdruck kommt. Sie war mit Leib und Seele dabei, und wir hätten die Führung nach Belieben verlängern können. Frau Gabriel schleuste uns zuerst einmal an alten Schlitten wie dem letzten Postschlitten Innerferrera–Avers, an der letzten Postkutsche Splügen–Mesocco mit den dazu gehörenden Bremsklötzen und dem Behälter für die Wagenschmiere vorbei in die Scheune, wo neben der Dreschtenne das Getreide gelagert worden war. An den runden Holzbalken, die blockhausartig zusammengefügt sind, hängen die landwirtschaftlichen Attribute aus jenen vergangenen Jahren, in denen alles noch Pferde-, Ochsen- oder Handarbeit war: Joche, Sensen, Dengelzeug, Rechen, Heugabeln. Den Übergang zur Mechanisierung bildet eine eiserne Mähmaschine von 1935, die von einem Pferd gezogen wurde.
 
Andere Geräte erinnern an den mühsamen Erzabbau auf der Alp Taspin oberhalb von Zillis, so ein kleiner, mit einem Gemsfell ausstaffierter Handschlitten und ein grosser Schlitten mit einem wannenförmigen Behälter. Sie dienten dem Abtransport der gewonnenen erzhaltigen Gesteine.
 
Das 2. Scheunenviertel, wo würziges Bergheu und Emd gelagert worden waren, ist dem Ackerbau gewidmet. Daraus wird allmählich klar, dass in der Bergregion Schams der Futterbau, die Viehzucht und die Milchwirtschaft die Haupterwerbsquellen für die Bevölkerung waren, wenn sie nicht gerade mit dem Transitverkehr oder dem Erzabbau zu tun hatten. Der eher magere Ertrag des Ackerbaus deckte im besten Fall den eigenen Bedarf. Die Schamser verwendeten verschiedene Typen von Pflügen, hölzerne Eggen, Dreschgeräte, Wannkörbe, Wannmühlen und Kornmasse, die auch im Bodenbereich Eintiefungen hatten, mit denen das Körnervolumen bestimmt werden konnte. Und auch an den Nachmittagsimbiss (Zvieri) wurde gedacht: Selbst gebackenes Brot, Kaffee und eine Flasche Wein aus dem Veltlin.
 
Im 3. Scheunenviertel sind Holzbearbeitungswerkzeuge zu sehen, denn es ist auffallend, dass die allermeisten Geräte aus Holz gefertigt waren, sogar die Wasserrohre, die mit grossen Bohrern ausgehöhlt werden mussten. In der Mitte dieses Ausstellungsteils befinden sich einige Zweimannhobel aus dem Ferreratal, welche der Herstellung von Fassdauben und Kübelwänden dienten. Dreh- und Hobelbänke wurden logischerweise häufig benützt; das Handwerk blühte. Im 4. Scheunenviertel ist die Mahleinrichtung der ehemaligen Mühle von Patzen zu sehen. Die beiden Mahlsteine (Bodenstein und Läufer) sind aus Andeerer Granit (auch Rofnagneis oder Rofnaporphyr genannt) mit seiner grünlichen Farbe gefertigt, die vom Eisenoxid-Mineral Fengit stammt. Ein oberschlächtiges Wasserrad trieb die Anlage an. Das romantische Klappern der Mühle entstand durch die Entleerung der Schaufeln am Wasserrad.
 
Wir glaubten schon, alles gesehen zu haben, wurden aber von der unermüdlichen Frau Gabriel noch über eine gewundene Steintreppe in den Keller hinunter komplimentiert, wo uns die Gegenstände, die der Hausmetzgete dienten, erwarteten: Äxte zum Töten von Ochsen und Schweinen, eine Brühwanne für das Schweinefleisch, ein Schragen für das Zerlegen von geschlachteten Ziegen und Schafen, Hackstöcke, Hackmesser sowie Wurstmaschinen aus Holz und Blech. Daneben wurden Sauerkraut und saure Rüben mit Hilfe von Stampfern zubereitet. Weisse Rüben hatten vor der Einführung der Kartoffeln eine wichtige Bedeutung als Nahrungsgrundlage.
 
Ein hinterer Keller diente als Lager für Käse, Butter, Fette, Wein und Schnaps (Spirituosen). Von der Decke hängen mäusesichere Gestelle, auf denen das Brot oft wochenlang aufbewahrt wurde.
 
In einem ehemaligen Vorratsraum für Getreide, Mehl, Hülsenfrüchte und Dörrobst ist heute ausgestellt, was bei der grossen Wäsche mit Buchenholzasche (Aschenlauge) nötig war und gleich nebenan auch, was zur Alp- und Haussennerei gehörte, unter anderem ein Butterfass mit Hebelantrieb. Eva als waschechte Bündnerin mit Walser Wurzeln fühlte sich hier sehr angesprochen, kennt vieles noch von ihrem elterlichen Bergbauernbetrieb her. Es brauchte sehr viel, eine jahrelange Aufklärungsarbeit, bis ich ihr weismachen konnte, dass der Notvorrat heute nicht mehr dieselbe Bedeutung wie früher hat. Wie ein Blick in unsere eigenen Vorratsschränke zeigt, hat mir Eva das zwar noch nicht so ganz abgenommen. Aber ich verstehe jetzt wenigstens, wo die Ursachen für die Vorsorgehaltung sind.
 
Im 1. Stock des Schamser Museums sind verschiedene Möbel wie ein Tisch mit gedrechselten Füssen, Laternen, Lampen und eine Presse und eine Giessform für Bienenwachskerzen versammelt, ebenso Feuergabeln, Aschenschaber, Brotschaufeln und Rechen für Dörrobst. In der Wohnstube steht ein Webstuhl, und in Vitrinen sind die erzhaltigen Steine des Schamsertals ausgestellt (Eisen, Silber, Blei, Kupfer und Uran). In diesem Tal wurde der Erzabbau während etwa 300 Jahren betrieben; um 1920 kam er zum Erliegen. Er rentierte nicht mehr. Liederbücher, Liederhandschriften und eine aus Tannenholz angefertigte Geige sind für die musischen Eindrücke zuständig, ebenso eine Reisefüllfeder von zirka 1850.
 
„Aber in die Speisekammer und die Küche müssen Sie noch“, befahl Frau Gabriel, obschon der Mittag nahte und wir wegen einer auf 14 Uhr angesetzten Beerdigung in Malix GR hätten starten müssen. Wir nahmen uns die Zeit noch und wurden gleich aufs Thema eingestimmt: Als ein Memento mori – an etwas also, das an den Tod gemahnt –, sind dort, wo einst Rauchfleisch, Würste, Milch, Eier, Gebäck und Resten aufbewahrt wurden, eine Sanduhr, ein Schädel und ein Glockenklöppel eingelagert.
 
In der Küche nebenan war die Feuerstelle die zentrale Einheit. Der antike Tisch war rustikal gedeckt.
 
Und im Flur im 2. Stock finden sich hinter einer kostbaren chinesischen Lacktruhe ein Trauermantel und Zylinder für Beerdigungen. Das war schon fast ein Wink mit dem Zaunpfahl …
 
Das Schlaf- und Knechtezimmer mussten wir aus Zeitgründen auslassen; doch kauften wir noch den ausgezeichneten Führer durch das „Schamser Talmuseum“ von Christoph Somonett (Cuminanza culturala Val Schons,1997), der als zuverlässige Grundlage für diesen Bericht diente, und das „Heimatbuch Schonz“ von Benedict Mani, welches das Tal detailliert erschliesst, lohnende Investitionen.
 
Wir fuhren talabwärts, warfen noch Seitenblicke zum Schamserberg, den man einst mit Bahnen erschliessen wollte, und die imposante Kulisse des Piz Beverin an der linken Talseite, schauten nach rechts zur mineralienhaltigen Alp Traspegn, und wir zirkulierten noch einmal an der Viamala vorbei, die uns inzwischen vertraut war.
 
Ich fand mich motiviert, bei nächster Gelegenheit wieder einmal das Buch „Via Mala“ von John Knittel zu lesen, der die menschlichen Empfindungen und Konflikte in dieser Gegend lebensnah aufzeigte und ganz am Anfang seines Werks den Traum vom unermesslichen Reichtum wegen der Silbervorkommen erwähnt, der mit einem Misserfolg endete. Seine Schilderungen erinnern an das, was im Museum Zillis zu sehen ist: „In einem kleinen Raum mit kahlen Wänden und niedriger Decke neben einer finsteren, höhlenartigen Küche waren drei Menschen um einen rohen Brettertisch versammelt. Die Lampe, die über ihren Köpfen an einem Haken hing, war eine runde Stalllaterne, und ihr spärliches Licht beleuchtete eine Frau, ein junges Mädchen und einen jungen Burschen. Sie waren soeben mit dem Essen fertig geworden. Die Teller, die auf dem Tische standen, gehörten zu jener billigen Sorte, die man für wenig Geld bei den herumziehenden Hausierern oder auf Jahrmärkten kauft. Einem Neuling wäre es schwer gefallen, in diesem Raum einem Gespräch zu folgen, denn das tiefe Tosen des Wasserfalles schlug unablässig an die Ohren.“
 
Es mangelte an Komfort, es herrschte bittere Armut, wie man von Knittel erfährt. Wir verliessen das Schams, diese uns nun vertraute heimatliche, helle Mulde zwischen der Viamala- und der Rofflaschlucht, steuerten Thusis, Tiefencastel und die Lenzerheide an – hinaus in eine andere Welt, in eine andere Zeit. Am gleichen Abend noch waren wir im Aargau zurück, wo die Flüsse breiter und die Schluchten aus- und aufgefüllt sind. Hier ist alles etwas sanfter.
 
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