Textatelier
BLOG vom: 20.08.2007

Das erwartete, unter den Erwartungen liegende Ergebnis ...

Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Die Analysten, die mit ihren Prognosen die Börse zu beunruhigen pflegen, haben manchmal einigermassen Recht, und manchmal sind die Ergebnisse eines Unternehmens besser als die Analysten-Erwartungen vorausgesagt haben, oder aber es liegt unter den Erwartungen. Der geneigte (bzw. aufrecht vor dem Bildschirm sitzende) Leser schlussfolgert daraus messerscharf, dass jedermann als Analyst tätig sein könnte, denn was immer er auch aus dem hohlen Bauch heraus weissagen mag, erfüllt eine der 3 erwähnten Möglichkeiten. Es ist genau wie mit dem auf dem Mist krähenden Hahn, der als Wetterprophet tätig ist: Das Wetter ändert sich oder es bleibt, wie es ist.
 
Das Börsen-Ratespiel ist für die Teilnehmer natürlich so langweilig wie das Studium der Wirtschaftspresse, die aus technischen Gründen (schreiben, drucken, verteilen) dem kursierenden Geschehen immer hinterherhinkt und mit ihrem Papier höchstens noch zur Umsatzvergrösserung der Recyclingindustrie beiträgt. Wer aktuell informiert sein will, muss schon in die Verstrickungen des Internets eintauchen.
 
Die Wirtschaftsmedien wissen, dass sie innovativ sein und sich zu höheren geistigen Leistungen aufschwingen müssen. Und so befragen sie denn gelegentlich einen Börsenhändler, der hoffentlich eine neue Variante der Einschätzungen von sich gibt. Expertenbefragungen ersetzen heute die wegrationalisierte redaktionelle Intelligenz. Der nachfolgende, luftig-duftige Kommentar eines solchen mit allen Wassern gewaschenen Fachexperten betrifft das Jahresergebnis 2007 der Schweizer Firma Givaudan SA, weltweitgrösste Herstellerin von Aromen und Duftstoffen, deren für die globalisierten Einheitsaromen zuständige Geschäftsbereich allerdings in Cincinnati USA liegt.
 
Lassen wir den Experten zu Worte kommen. Er sprach also: „Das Ergebnis liegt unter den Erwartungen. Aber das war erwartet worden.“
 
Soweit der von der Agentur Reuters für einen ihrer Marktberichte zitierte Börsenhändler. Damit offenbarte sich ein ganz neues Talent eines Börsenhändler-Individualisten; denn in der Regel (jedenfalls nach all meinen eigenen Erfahrungen) vollziehen die Marktteilnehmer einfach die USA-Vorgaben nach: Wenn der Dow-Jones-Index (original: Dow Jones Industrial Average, DJIA) als internationaler Leitindex (obschon er schlicht die Verhältnisse bei den 30 grössten US-Firmen abbildet) steigt, dann werden weltweit Aktien wie frische Semmeln gekauft, geruht er aber beispielsweise wegen einer depressiven Stimmung, beispielsweise aufgrund des aus dem Ruder geratenen US-Immobilienmarkts mit seiner Ansammlung oberfauler Kredite, zu fallen, schmeissen alle Aktienhändler dieser Erde – ich kenne nur ganz wenige selbstbewusste Ausnahmen – die Papiere in den Sell-Kehrichteimer. Die Asiaten mit ihrem besonders ausgeprägten Herdentrieb tun das manchmal mit noch grösserer Inbrunst als wir Mitläufer-Europäer – doch das Prinzip ist global bewährt und gilt: Amerika hat das Sagen. Ausgerechnet die USA.
 
Unter solchen Voraussetzungen spielt es auch keine Rolle mehr, ob man sein mühsam Erspartes in der Schweiz, in Deutschland, in Hongkong/China oder – ich wage es fast nicht auszusprechen – gar in den USA dahinschmelzen oder sich vermehren lässt; (im Falle USA kommen einfach noch Formalitäten zur persönlichen Kontrolle des Anlegers dazu). Und man braucht nur noch den aktuellen Zustand des Indexes einer einzigen Börse anzusehen, um zu wissen, ob sich die übrigen Börsen in aller Welt im grünen oder roten Bereich bewegen. Dieser eingespielte globale Gottesdienst wird bloss durch die etwas unangenehme Zeitverschiebung gestört. Doch wenn die US-Börsen gerade schlafen oder irgendeinen nationalen Feiertag feiern, wartet man im Rest der Börsenwelt, wo nicht gerade gefeiert wird, einfach ab. Mit anderen Worten: Unveränderte Kurse lassen auf einen US-Feiertag schliessen. Und wenn die kriegsgeilen USA gerade wieder einen Bombenfeldzug einläuten oder vorbereiten, weil ihnen die Rohstoffe aus- oder die Machtgelüste mit ihnen durchgehen, brechen alle Börsen ein, weil dann vergessen wird, dass Kriege schliesslich zum grossen US-Geschäft gehören und am Ende die Börse beflügeln. Auch das Geld, das namhafte US-Firmen zum Wiederaufbaupfusch in zerstörten Ländern allfällig erhalten, taucht ja wieder an den Börsen auf. Meistens fliesst es ohnehin direkt in die Taschen von US-Unternehmen, die sich während der Präsidentenwahlkämpfe spendabel gezeigt haben.
 
So herrschen im Börsenall- und Sonntag klare Verhältnisse. An sich braucht es die verehrten Analysten allein noch dazu, um Fehlprognosen am Laufmeter zu erzeugen, damit etwas Spannung ins trostlose Ritual kommt. Man kann die erwarteten Resultate dann mit den Analysten-Erwartungen vergleichen, um zu erkennen, dass da eigentlich niemand den Durchblick hat, weil es in dieser Branche viele Fehlüberlegungen und Gier gibt, die zu falschen Schlussfolgerungen und irrwitzigen Handlungen führen. Und gerade dieses Chaos macht die Sache spannend.
 
Dieses Spiel wird auch durch die amerikanischen Rating-Agenturen untermauert. Sie verbreiten börsianisches und hypothekarisches Schönwetter, auf dass auch die faulsten Geschäfte laufen, wie etwa zweitklassige Hypotheken (Subprime Mortgages), die durch nichts gedeckt sind und den Amerikanern, die mit Geld halt nicht umgehen können, erlauben, ein grosskotziges Leben auf Pump zu führen. Am Schluss hat die Restwelt die Zeche zu zahlen, wie üblich. Warnsignale werden von den Rating-Agenturen wie Standard & Poor’s, Moody’s und Fitch, diesen 3 grössten, ignoriert, und sie warnen erst, wenn Krisen für jedermann offensichtlich sind.
 
Bei all den Interessenkonflikten bleibt die Objektivität der Agenturen auf der Strecke. So war es auch beim Zusammenbruch des Enron-Konzerns und bei der gegenwärtigen US-Immobilienkrise. Über diese habe ich bereits am 27.03.2007 ein Blog geschrieben (Dubioser US-Immobilienmarkt: Alles Faule kommt von drüben); das ganze Debakel war längst bekannt, doch erst vor wenigen Tagen taten die Börsen so, als ob die Immobilienkrise und die damit zusammenhängende US-Verschuldungspolitik mit zerfallendem Dollar von einem Tag auf den anderen hereingebrochen sei, und gerieten mit Verspätung im Kollektiv in Panik. Die Welt zahlt wieder einmal für die unverantwortliche Kriegs-, Wirtschafts- und Geldpolitk der USA. Auch das ist Globalisierung: mitgegangen, mitgehangen. Doch das Vorbild bleibt uns unbeschädigt erhalten; und die Schweizerische Nationalbank schaut weg und verscherbelt den letzten einigermassen sicheren Wert, das Gold, damit auch unser Franken seinen Edelmetall-Unterbau verliert.
 
Gäbe es einen Börsenanalysten, der aufgrund seiner scharfsinnigen Analysen vorhersagen könnte, wie sich der Aktienkurs auch nur eines einzigen Grossunternehmens garantiert entwickeln wird, er würde sich wohl nicht als Analyst verdingen, der manchmal, wie ich während des Swissair-Debakels gelernt habe, in Ernstfällen einen Maulkorb tragen muss, wenn er nicht fliegen will. Er könnte all sein Geld zusammenkratzen und noch Kredite in beliebiger Höhe aufnehmen und alle diese Mittel in jenes oder jene Unternehmen investieren, deren Aktienkurse mit Garantie stark steigen werden. Ein gemachter Mann.
 
Oder umgekehrt gedacht: So lange sich Börsenhändler nicht selbstständig machen, liefern sie den Beweis dafür, dass sie ihrer Sache nicht sicher sind. Die erwarteten Ergebnisse ihrer Analysen wie auch jene der ratenden Ratingagenturen werden, von Zufallstreffern abgesehen, unter den Erwartungen liegen ...
 
Man gestatte mir bitte, desillusioniert zu ein.
 
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