Textatelier
BLOG vom: 17.11.2007

Zermatt VS: Die vielen Facetten des mondänen Châletdorfs

Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Zermatt liegt am Ende der Welt, und, automobilistisch betrachtet, sogar noch eine Station dahinter. Das ist der Vorteil dieses Ferienorts im Wallis und nicht etwa sein Handicap.
 
Nach rund 30 Jahren sind wir am Nachmittag des 13. November 2007 erstmals wieder nach Zermatt gereist. Im Aargau schien die Sonne. Nach Bern tauchten wir unter eine graue Wolkenschicht ein, tranken bei Evas Schwester Greti von Känel in Reichenbach im Kandertal einen starken Kaffee. Im oberen Teil des Kandertals, wo durch einen Teil des Ausbruchmaterials und der Schlämme aus dem Lötschberg-Basistunnel der Neat (insgesamt 16 Millionen Tonnen) beim inzwischen stillgelegten Lawinenschutztunnel Blausee–Mitholz ein neuer Hügel entstanden ist, begann es herrlich zu schneien. Die Nadelbäume und die Felsbrocken waren von einer dünnen Schicht Schnee überzogen – ein filigraner, aufhellender Wintertraum.
 
Die Reise nach Zermatt
In Kandersteg fuhren wir mit dem Prius-Hybrid auf den Autozug, der uns nach Goppenstein unter die wankelmütigen Hangverbauungen brachte (20 CHF für Fahrzeuge bis 3,5 t). An ein solch starkes Rütteln wie in der Fahrt durch die Tunnel-Trostlosigkeit waren wir sonst nicht gewöhnt, da unser Auto alle Unebenheiten ausbalanciert, wenn sich seine eigenen Räder drehen.
 
Im Wallis war der Himmel klar. Wir genossen die Fahrt neben fachmännisch gefügten Natursteinmauern nach Steg/Gampel in die Talebene hinunter. Und die weissen Hörner, welche das Bild im Osten einrahmten, vom Bietschhorn bis zum Wasenhorn und Breithorn waren von der Sonne hell beleuchtet, während es drunten in der Rhoneebene bereits zu dämmern begann. Die Weiterfahrt führte uns an der Pappelallee an der Kanalstrasse in Raron vorbei. Wir bogen in einen Tunnel ins Vispertal ein und stiegen am frühen Abend durchs Mattertal empor, zuerst weit oberhalb der Bahnlinie, vorbei an den letzten Rebgärten im felsigen Westhang und am Verkehrskreisel mit dem poppigen, röhrenförmigen Nikolaus in St. Niklaus. Als wir oben in Täsch ankamen, war es bereits dunkel.
 
Strassen-Endstation Täsch
In Täsch, etwa 5 km vor Zermatt, endet die Strasse. Direkt beim Bahnhof ist ein ausserordentlich geräumiges Parkhaus vorhanden, in dem man für 13.50 CHF pro 24 Stunden das Auto wettersicher unterbringen kann.
 
Ich erinnerte mich bei dieser Gelegenheit an die Strassenbau-Kämpfe in den 1970er-Jahren; solche Auseinandersetzungen hatte es zwar schon zuvor gegeben, gewissermassen seit dem Bau der Brig–Visp–Zermatt-Bahn, deren erster Abschnitt (von Visp bis Stalden) am 3.7.1890 eröffnet wurde. In jenen Jahren wurde mit den Gemeinden ein Vertrag abgeschlossen, in dem vereinbart war, dass während eines halben Jahrhunderts keine Strasse nach Zermatt gebaut werden dürfe; der Bahnbetrieb sollte nicht konkurrenziert und unrentabel werden. Der Vertrag wurde bis zum Ende seiner Gültigkeit (1952) eingehalten, und dann wurde die Strasse bis Täsch gebaut. Zuerst war St. Niklaus gegen die Weiterführung, weil diese Gemeinde, gern das Parkgebühren-Geschäft gemacht hatte, dessen sich nun Täsch erfreuen darf. Täsch stemmte sich denn auch vehement gegen die Weiterführung der Strasse nach Zermatt.
 
Doch das hatte wohl kaum Einfluss auf die Haltung der Zermatter, die schon 1964 mit Zweidrittelsmehrheit den Bau einer Strasse bejaht hatten. Damit war das letzte Wort allerdings noch nicht gesprochen. 1971 bewilligte der Grosse Rat des Kantons Wallis einen Kredit von 25 Mio. CHF für den letzten Strassenabschnitt Täsch‒Zermatt, der in dem schwierigen Gelände zahlreiche Kunstbauten erfordert hätte. Im Mai 1972 lancierte das „Initiativkomitee für die Erhaltung von Zermatt“ eine Petition, mit der eine nochmalige Abstimmung in der Gemeinde gefordert wurde. Das Komitee stützte sich insbesondere auf eine Fernsehsendung ab, die dem Verkehrsverein Zermatt fast 14 000 Zuschriften aus aller Welt eintrug, von denen sich rund 97 % gegen das Strassenbauprojekt aussprachen.
 
Harte Auseinandersetzungen waren vor der Abstimmung im Dezember 1972 programmiert. Die Christlichsozialen und der Touring-Club der Schweiz (TCS) zählten zu den Befürwortern der neuen Strasse. Die anderen Parteien beschlossen Stimmfreigabe. Ein prominenter Strassenausbau-Gegner war Théodore Seiler, Präsident der Hotels Seiler AG. Er befürchtete, dass eine jahrelange Bauerei für Strasse und Parkanlagen die beste Kundschaft vertreiben würde. Damit wäre das 1619 m ü. M. gelegene Zermatt zweifellos in die Niederungen des Massentourismus abgeglitten. Und so wurde denn der Stassenbau verworfen, und Zermatt geniesst nach wie vor die herrliche Autofreiheit. Nur Elektrokarren fahren gelegentlich durch die lange, schmale Dorfstrasse und die engen Gassen. Insgesamt kann man dies allerdings wohl nicht unter „Umweltschutz“ katalogisieren, da offensichtlich die meisten Zermatt-Touristen mit dem Auto bis Täsch fahren, um sich nach kurzer Bahnfahrt umweltfreundlich zu erholen.
 
Der Pendel-Bahnverkehr Täsch‒Zermatt wurde 1973 aufgenommen; er ist die wichtigste Einnahmequelle der BVZ (die Retourfahrt mit dem modernen Shuttle kostet heute mit dem Halbtaxabo CHF 7.80, sonst etwa das Doppelte). Besonders attraktiv ist diese Fahrt, die häufig durch Tunnels und Galerien führt, allerdings nicht.
 
In Zermatt
Ich hatte lange nach einem freien Hotelzimmer gefahndet; denn im November herrscht überhaupt keine Saison, und viele Hotels und andere Einrichtungen sind geschlossen. Mit etwas Glück stiess ich auf das Hotel „Gornergrat“ direkt vis-à-vis des Bahnhofs Zermatt. Wir erhielten das Zimmer 302 mit Matterhornblick, der uns am Abend aber noch versagt blieb (Kosten: 80 CHF pro Person und Nacht, ein einfaches Frühstück eingeschlossen). Wir waren mit dieser Lösung zufrieden.
 
Kurz nach 18 Uhr starteten wir zu einem Spaziergang durch das Châletdorf mit den sonnenverbrannten, rustikalen Holzfassaden, hinter denen sich mondäne Geschäfte präsentieren. Das Dorf unter dem flammenförmigen Matterhorn, dem mächtigen „König der Berge“, hat sich in den letzten Jahrzehnten schon verändert, aber der Dorfkern ist noch immer eine Erinnerung an frühere Zeiten, wenn auch auf die touristischen Einkaufsbedürfnisse abgestimmt. Eine Überraschung erlebte ich kurz vor Ladenschluss in der Konditorei „Hörnli“ (die Hörnlihütte ist übrigens die Matterhorn-Basis) von Zita und Vinzenz Perren, wo ich mich mit etwas Gebäck zu Reservezwecken für alle Fälle eindeckte. Frau Perren sagte, ob sie mir noch 1 oder 2 Sandwiches schenken dürfe – und ich hatte nichts dagegen. Sie waren zwischen herrlichem Vollkornbrot mit Käse, Salat und Gurken gefüllt und leisteten uns auf der Heimfahrt am nächsten Tag beste Dienste. Das war die andere Seite des sündhaft teuren Zermatt … Ich zeigte mich erkenntlich, indem wir uns vor der Abreise hier noch grössere Reserven von dunklem Brot beschafften, von denen wir noch immer mit guten Gefühlen zehren.
 
Über die Qualität der Gaststätten hatte ich mich diesmal nicht informiert, weil mir das aus der Distanz als unnütze Arbeit vorkam, zumal ja ohnehin die meisten Häuser geschlossen sein würden. So gaben wir uns auf der Dorfstrasse (Bahnhofstrasse) der Lektüre der Speisekarten hin und liessen uns von derjenigen des 1964 erbauten Hauses Darioli verlocken, die bodenständige Wildgerichte wie Rehschnitzel und -ragout zu Spätzli, mit Preiselbeeren gefüllten Äpfeln versprach. Das vordere Restaurant („Zermatterstübli“) war offenbar eher für die Konsumation eines Kaffees oder Biers bzw. für einen Jass bestimmt. Doch erkundigten wir uns genauer und fanden weiter hinten den Grillraum „Le Gitan“, wo das Gemälde einer temperamentvollen Zigeunerin, welcher im Bereich der linken Brust offenbar jemand das Kleid zerrissen hatte, den Namen des Lokals rechtfertigte. Das Bild könnte von Frans Hals in einer Phase überschäumender Lustgefühle gemalt worden sein. In diesem wohltemperierten, verwinkelten Raum gefiel es uns, und wir setzten uns an einen schön gedeckten Tisch aus Ulmenholz.
 
Zu den Wildgerichten bestellte ich eine Flasche Humagne Rouge (Chamoson 2005, Simon Maye & Fils), eine seit den Römerzeiten im Wallis bekannte Traubensorte, eine Rarität, die man, wie auch die Variante in Weiss, den Humagne Blanc, als Hebammenwein bezeichnet. Denn nach vollendeter Arbeit tat er wahrscheinlich nicht nur der Hebamme, sondern auch der Mutter gut. Dieser herbe, ungehobelte, kantige und sehr kräftige und auch kräftigende Wein passte wunderbar zum schmackhaften Fleisch.
 
Sacha Darioli bediente den Grill selber nach allen Regeln der Kunst. Das Holz wird in einem hochgestellten Korb verbrannt, und die Glut fällt in einen Behälter, der als Wagen auf Schienen ausgebildet ist. Der Akt des Grillierens passiert also neben dem Feuer, und die Hitze kann ideal gesteuert werden. Das Rehschnitzel hatte nur eine Spur Raucharoma, genau so viel wie es braucht, ohne dass damit der Duft des Fleisches erschlagen wird. Wir waren des Lobes voll und schlossen das Mahl mit einem süss dekorierten Crêpe ab.
 
Blick aufs Matterhorn
Die Nacht, mitten in Zermatt, war von frischer Luft bei vollkommener Ruhe erfüllt. Das sind Qualitäten. Und bei Tagesanbruch bestätigte es sich, dass unser Zimmer tatsächlich den „Blick aufs Matterhorn“ hatte. Die im Aufgehen begriffene Novembersonne beschien zuerst die Spitze dieser dreiseitigen Pyramide, die von einem ungeheuren Rahmen aus Gletschern, Firnen und weiteren himmelhoch strebenden Gipfeln umgeben ist. Denn ausser dem tausendfach abgebildeten Matterhorn gehören auch der massige Monte Rosa, der weiss leuchtende Dom und das würdevolle Weisshorn zu den Hausbergen von Zermatt.
 
Dann fiel das Morgenlicht auf die wie poliert anmutende Ostfläche des Bergs – es ergab sich fast ein Spiegeleffekt. Und bald darauf zogen erste Wolken auf, die dem Berg eine schräge Zipfelmütze aufsetzten.
 
Beim Blick aus dem Hotelfenster erkannte ich, wie sehr doch dieses Zermatt gewachsen war, trotz der Autofreiheit sicher etwas zu schnell. Einzelne Châlets kletterten beherzt die Steilhänge empor, und die Zermatt-Werbung am Fernsehen berichtete, dass in Zermatt pro Jahr 1,8 Millionen Übernachtungen registriert würden. Das erklärte manches.
 
Nach dem Frühstück begaben wir uns zur Dorfkirche, wo bereits die Glocken zum Abschied von Hannes Taugwalder riefen. Ich habe darüber im Blog vom 15.11.2007 ausführlich berichtet, ebenso über den Bergsteigerfriedhof. Der Himmel verdüsterte sich, und ein Ausflug Richtung Gornergrat war des zunehmenden Nebels wegen nicht mehr angezeigt. Wir reisten noch gleichentags zurück, diesmal durchs Wallis, vorbei am Genfersee mit dem vertrauten Montreux.
 
Matterhorn-Besteigungen
Als Kompensation für die entgangenen Hochgebirgserlebnisse las ich daheim, wo es eben zu regnen begann, das SJW-Heft 808 aus dem Jahr 1963: „Der Kampf ums Matterhorn“, eine Erzählung von Carl Haensel. Daraus ist zu erfahren, dass am 14. Juli 1865 der junge Engländer Edward Whymper als Erster den Gipfel des Matterhorns erreichte. 4 seiner Begleiter (der Bergführer Michel Croz aus Chamonix, Reverend Charles Hudson, Lord Francis Douglas und D. Robert Hadow, alle Engländer, bezahlten diesen sorgfältig vorbereiteten Sieg über den 4477 Meter hohen Berg, eine Eis- und Felspyramide, mit dem Leben. Sie stürzten auf der Rückkehr in die Tiefe. Die beiden Bergführer, Peter Taugwalder Vater und Peter Taugwalder Sohn, überlebten das Abenteuer. Durch dieses spektakuläre Geschehen wurde Zermatt weltberühmt.
 
Auf dem Bergfriedhof in Zermatt erinnern viele Gräber mit Pickel oder Gletscherseil vor dem Grabstein an das bedrückende Geschehen in den Bergen, wo die grandiose Schönheit oft mit dem Unglück einhergeht. Doch was immer sich in dieser Gebirgswelt ereignet haben mag, sie behält ihre Anziehungskraft.
 
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