Textatelier
BLOG vom: 25.06.2008

Franche-Comté 3: Dem jungen Doubs entlang bis Pontarlier

Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Die Franche-Comté, das Grenzland hinter der Schweizer Westgrenze, könnte ebenso gut noch immer ein Bestandteil des ausladenden ehemaligen Lothringischen Reichs sein, zu dem auch noch das Burgund, die welsche (französische Schweiz), das Elsass, das deutsche Rheinland und Belgien gehörten. Die Grenzen sind fliessend, was sich nicht allein auf den Doubs bezieht. Viele Einflüsse aus der näheren und ferneren Nachbarschaft sind dort versammelt, gerade auch westschweizerische. Man fühlt sich dort wie daheim.
 
Doch begrenzen wir uns auf die Region zwischen Montbéliard und Pontarlier, wo der Jura die Scheidelinie zwischen Frankreich und der Schweiz bildet und der fischreiche Doubs, der den Nordjura Richtung Mittelmeer entwässert, eine wichtige, landschaftsprägende Lebensader ist. Der Fluss hat der Region den Namen gegeben.
 
Wir fuhren am 18. Juni 2008 von Ronchamp bzw. Champagney auf der N19 gegen die alte Festungsstadt Belfort und dann auf der E60 genau südwärts Richtung Montbéliard. Im Stadtteil Sochaux passiert man kilometerweit an Halden mit Peugeot-Automobilen, die dort fabriziert, gelagert und verladen werden. Auch ein Peugeot-Museum ist dort, wie mir ein Wegweiser mitgeteilt hat. Sehr viele Franzosen haben nach der Devise „Ehret einheimisches Schaffen“ eine ausgesprochene Treue zu dieser Marke entwickelt, die gerade ihren „Bipper“, ein kleiner Lieferwagen mit Diesel- oder Benzinmotor, auf die Strassen gebracht hat. Peugeot bastle zurzeit an einem Diesel-Hybriden herum, vertraute mir ein Markenkenner im Vertrauen an. Der hohe Benzinpreis fördert Innovationen im Sektor Energiesparen – reichlich spät.
 
Nachdem wir diese Autoorgie hinter uns gelassen hatten, wählten wir die D437 mitten durch das französische Département Doubs, das eine halbe Million Einwohner zählt und zur Region Franche-Comté gehört. Somit fuhren wir gegen die Fliessrichtung des Flusses (flussaufwärts) des oberen Doubs, der sich hier ins Karst-Plateau eingegraben hat, vorbei an unscheinbaren Dörfchen wie Soulce-Cernay bei der steilen, intensiv bewaldeten Lomontkette und Montjoie-le-Château. Im Raume Gaumois gibt es attraktive Aussichtspunkte – und wir fuhren vorbei, weil die Zeit drängte. Der Jura ist mit sattgrünen Wäldern bewachsen, und dazwischen gibt es ausgedehnte Weideflächen mit den weissen und rotbraun gefleckten Kühen der Rassen Montbéliard und Simmentaler. Manchmal steigen Kalkwände schroff an, so dass der Hügelzug höher wirkt als er eigentlich ist, ein reiner Bluff, den ich als Bewohner des Jurasüdfusses im Aargau selbstverständlich schon längst durchschaut habe. Hier und dort durchbrechen Quertäler die Hügelkette: Combe de Seigne im Süden, Noirecombe und Combe Semont im Norden.
 
Die gut ausgebaute, zweispurige Strasse führt durch die bis 500 m breite Talniederung, steigt wieder in die Höhe, und es dauert seine Zeit, bis die Strasse wieder mitten durch einen einsamen Ort führt. So einer ist Saint-Hippolyte, wo der Dessoubre in den Doubs einmündet und im 19. Jahrhundert Mühlen, Gerbereien, Schmieden und Spinnereien entstanden waren. Und viel verändert hat sich hier wohl nicht: Ein typischer Brückenort. mit einer gotischen Kirche. Heute ist das ein stagnierendes Dörfchen mit etwa 1000 Einwohnern; die Zahl nahm in den letzten Jahrzehnten etwas ab.
 
Eigenschaftswörter wie „romantisch“ kann man für die Charakterisierung der Juralandschaft sehr wohl aus dem Repertoire hervorholen, die sich gegen Süden anschliesst.
 
In Morteau habe ich den Kauf der berühmten „Schönen von Morteau“, einer Wurst im Naturdarm, aus rein regionalen Zutaten hergestellt und mit Holzspiesschen verschlossen, verpasst, weil ich von deren Existenz erst im Nachhinein gelesen habe. Ich muss meine Reisen in Zukunft noch besser vorbereiten; denn wer soll eine Wurst finden, von deren Existenz er nichts weiss …? Jeweils im August soll es hier ein Wurstfest (Fête de la Saucisse) mit grossem Umzug geben – so lange aber konnten wir nicht warten, zumal es in Morteau sonst kaum Sehenswürdigkeiten gibt, die einen längeren Aufenthalt rechtfertigen. Die Strasse führt wie eine Aussichtsterrasse oberhalb der überbauten Fläche vorbei, die hier mit ihren 6400 Einwohnern relativ gross erscheint. Seine Grösse und Bedeutung verdankt Morteau wohl der grenzüberfahrenden Eisenbahnlinie von La Chaux-de-Fonds nach Besançon und auch der Uhrenindustrie (www.morteau.org ).
 
Die meines Erachtens faszinierendste, verträumteste Flusslandschaft in einem sonderbar moosigen Grünton ist in der Doubs-Region zwischen Morteau und Pontarlier zu finden. Das trifft zu, obschon dem dubiosen Fluss Doubs (= der Unentschlossene), der auch durch unterirdische Quellen gespeist wird und sich selber immer wieder im Untergrund verliert, das Mäandrieren ausgetrieben worden ist. Das Begradigen zur Landgewinnung und Überschwemmungsförderung hatte sich zu einer wahren Flussbauer-Seuche entwickelt. Doch alle Windungen konnten dem Fluss nicht ausgetrieben werden, ansonsten er seinen vorgegebenen Weg verlöre.
 
Südlich von Morteau beginnt die erste der Doubs-Schluchten, das Défilé d’Entreroche. Die Strasse schlängelt dem Fluss entlang, der in diesem Bereich noch eher die Dimensionen eines Bachs aufweist. Sie windet sich unter natürlichen Überhängen oder in den Fels gehauenen Nischen, die nicht abgestützt sind und bedrohlich wirken. Es gibt abrupte Flusskurven und Stromschnellen. Am Flussufer gibt es eine Gemeinde, die Doubs heisst, etwa 3 km nördlich von Pontarlier; sie liegt am Fusse des Hochplateaus von Arlier (Pontarlier-Frasne) und ist zu einem Vorort von Pontarlier geworden.
 
Pontarlier
Gegen 18 Uhr kamen wir in Pontarlier an, dem grössten Ort des hohen Juras (20 000 Einwohner), und parkierten den Prius beim Friedhof am Ortseingang; man erreicht das Zentrum über eine Doubs-Brücke; ein Holzsteg in der Nähe ist morsch, im Zerfall begriffen. Man gäbe den Brettern und sich selber den Rest, würde man ihn betreten. Der Fluss ist hier zwischen Mauern geklemmt. Im langgestreckten Städtchen ist noch vieles, wie es immer war, manchmal schon fast an der Grenze des Zerfalls. Vom gleichwalzenden Zentralismus nach EU- und Globalisierungsart ist nur wenig zu spüren.
 
Urs und ich besuchten eine frei zugängliche Gemäldeausstellung einheimischer Künstler. Ein älterer Herr an einem Holztisch machte 2 Striche in seine Besucherstatistik. Neben ihm lag ein Prospekt der „Amis des Arts“ auf, der auf den einheimischen Maler und Aquarellisten Gilles Bassand hinwies. Die Bilder waren eine bunte Ansammlung hinsichtlich der Formen, Motive und der Darstellungstechniken. Man sah zwischen den Bilderrahmen bemooste Steine im Doubs, Landschaftsmotive in allen Jahreszeiten, Gehöfte und alles, was hier wesentlich ist, vor allem auch der Schnee, manchmal in naiver, gelegentlich in naturgetreuer und dann wieder in abstrahierender Darstellung.
 
In Pontarlier lebte der 1776 in Le Locle CH geborene Henri Louis Pernod, der zuerst im Kanton Neuenburg, dann in Pontarlier mit der Absinth-Produktion begonnen hatte. Als dann der Absinth („Grüne Fee“) um 1910 in der Schweiz und 1915 auch in Frankreich verboten wurde, produzierte er das, was wir heute unter „Pernod“ kennen, ohne Thujon, wie es dank des Wermuts im Absinth vorhanden ist. 1975 schloss sich Pernod mit Ricard zur Firma Pernod Ricard zusammen. Absinth wurde im Verbotenen für den Schwarzmarkt hergestellt, auch im Val de Travers, so dass die Kultur erhalten blieb.
 
Kein Bericht über Portarlier kommt über die entsprechend abgedroschene Geschichte aus, dass der Absinth seinen Beitrag zur geologischen Erforschung des Doubs-Laufs geleistet habe: Nachdem 1901 in der Brennerei von Pontarlier Feuer ausgebrochen war, flossen rund 800 000 Liter Absinth in den Doubs. Die Anwohner rund um die aus einem Fels hervorbrechende Quelle der Loue bei Ouhans, die südlich von Dole in den Doubs mündet, stellten 2 Tage nach dem entfernten Brand zu ihrem grossen Vergnügen fest, dass plötzlich ein verdünnter Absinth aus der Loue-Quelle hervorsprudelte. Das bewies, dass die Loue ihr Wasser vom Doubs bezieht.
 
Im „Spar“-Laden an der Rue de la République, der schnurgerade durch Pontarlier führenden, breiten Hauptstrasse mit der Porte Saint-Pierre, ein 1772 erbautes Stadttor, deckte ich mich mit 2 Flaschen Absinth ein. „Spiritueux aux Extraits de Plantes d’ Absinthe de Pontarlier“ ist darauf zu lesen, ebenso mit einer Flasche Anis-Schnaps, alle aus der Distillerie Pierre Guy in Pontarlier, der einen sehr guten Namen hat. Die Zeichnung einer Wermut- bzw. Anis-Pflanze ist ins Flaschenglas eingebrannt (1 l zu 35,7 Euro und 7 dl zu 25,6 Euro). Eva kaufte noch ein paar Trinkgläser und bestellte bei mir auf dem Parkplatz gleich einen Schluck Anis als Verdauungshilfe; sie hatte immer noch mit dem Mittagessen zu tun.
 
Unmittelbar nach dem Stadtausgang Richtung Schweizer Grenze schalteten wir einen Halt ein, um einen Blick hinauf zum Château de Joux zu werfen, dessen Wurzeln auf das 10. Jahrhundert zurückreichen. Die Befestigungsanlage erlebte 1000 Jahre europäische Geschichte haut- bzw. mauernah, einschliesslich des Vorbeizugs von Karl dem Kühnen (1476) mit seinen Kriegern, der bei uns Schweizern dann allerdings an die falsche Adresse geriet. Die wuchtige Burganlage diente ab dem 18. Jahrhundert als Staatsgefängnis, und sie beherbergt heute ein Museum mit Waffen aus dem 18. und 19. Jahrhundert.
 
Einer der berühmtesten Gefängnisinsassen war der Marquis de Mirabeau (1749‒1791), einer der Vordenker der Französischen Revolution. Selbst der deutsche Dichter Heinrich von Kleist (1777‒1811), in Berlin unter Spionageverdacht festgenommen, verbrachte im Spätwinter 1807 einige Wochen hier. Der unter misslichen Bedingungen ebenfalls eingekerkerte Toussaint Louverture, der schwarze Führer der Unabhängigkeitsbewegung auf Haiti, inspirierte Kleist zu einer seiner berühmteren Novellen: „Die Verlobung in Santo Domingo.“
 
Wie seinerzeit die Bourbaki-Armee, aber in wesentlich besserem Zustand, erreichten wir in Les Verrières die Schweizer Grenze. Ein Zöllner fragte uns nach mitgeführten Waren. „Einige Flaschen Absinth“, meldete ich vom Beifahrersitz aus. „Absinth ist verbooootennn“, tönte es in einem mit Französisch angehauchtem Deutsch mit belehrend-strafendem Unterton zurück. Ich wagte den uniformierten Mann aus dem Val de Travers zu fragen, ob er denn auf dem Wissensstand des 20. Jahrhunderts verharrt habe … (seit dem 15. Dezember 2001 ist La Fée verte, die Grüne Fee, wieder überall zugelassen). Wir alle amüsierten uns über dieses kleine scherzhafte Geplänkel und wurden ohne weitere Kontrolle in die Schweiz hineingewunken.
 
Der Sonnenuntergang war nahe, ebenso der Neuenburgersee. Der Creux-du-Van sammelte wie ein riesiges, aus dem Kalkfels gehauenes Brennglas die letzten Strahlen. Und am Neuenburger- und Bielersee breitete sich eine gemütliche Abendstimmung aus. Die Autobahn, die sich allzu oft in Tunnel verkriecht, gehörte fast uns allein. Offenbar war irgendwo ein Fussball-Länderspiel im Gange. Griechenland‒Spanien. Ich erkannte daraus, dass selbst diese unbändige Sport-Euphorie ihre guten Seiten hat.
 
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