Textatelier
BLOG vom: 12.11.2008

Bellelay (01): Einige Kapitel Geschichte aus dem Berner Jura

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Aus verwandtschaftlichen Gründen hatten wir einen Besuch im Pferdezentrum von Bellelay BE zu machen. Kennen Sie Bellelay? Kommen Sie bitte auf eine Reise dorthin mit!
 
Wer von Biel quer zum faltigen Berner Jura durchs Tubeloch nach Frinvillier und Péry ins Vallée de Tavannes fährt, erhält das Gefühl, er befinde sich im Kanton Graubünden: Felshänge, eine Schlucht mit bis zu 500 m hohen Talflanken, diesmal aus schräg gestellten Jurakalkschichten, unter denen die Schüss (Suze) fliesst, Tunnels und Kurven sind die Merkmale dieser zerfurchten Landschaft. Der mundartliche Name Tubeloch (Taubenloch) wird auf Wildtauben zurückgeführt, die einst hier ihre Flugkünste geübt und genistet haben sollen.
 
Nach dem Passieren dieser wild-romantischen Jurakettenklus geht es horizontal an La Heutte, ebenfalls im Distrikt Courtelary gelegen, vorbei und alsdann im Hügelgebiet ansteigend nach Sonceboz und Tavannes (Dachsfelden). Wir zweigten in diesem uhrenindustriell geprägten Dorf zum bäuerlichen Weiler Le Fuet ab, der zur Gemeinde Saicourt gehört und erreichten, durch locker bewaldetes Gebiet gemächlich weiterhin ansteigend, kurz darauf Bellelay, ebenfalls ein Gemeindeteil von Saicourt (Distrikt Moutier, Kanton Bern). Die Gemeinde Saicourt grenzt im Westen an den jungen Kanton Jura.
 
Ankunft in Bellelay
Hier waren am 06.11.2008, unserem Tag im Berner Jura, die auf einem ausgedehnten Plateau gelegenen Jurahochweiden (930 m ü. M.) mit den Fichtengruppen in den Hochnebel eingebettet, über dem sich noch Wolken befanden; das Licht war entsprechend spärlich, genau wie es sich für diese Jahreszeit und Gegend gehört. Mir gefiel das. In Bellelay waren, Nebel hin oder her, das weit ausladende Pferdezentrum, das ehemalige Bauerngut und die ehemalige Prämonstratenserabtei problemlos auszumachen – stattliche Bauten aus vergangenen Zeiten; nur die Pferdeeinrichtungen sind neueren Datums. Das Kloster wurde 1136 von Propst Siginand von Moutier-Grandval gegründet; die Gebäude beherbergen heute eine Heilsanstalt für unheilbare nervenkranke Menschen; es ist also eine Psychiatrische Klinik.
 
Wir hatten uns auf 10.30 Uhr beim Verwalter der Fondation Bellelay, Jean-Pierre Graber, angemeldet, zumal es mir daran lag, die historische Käserei zu sehen, in der früher der Tête de Moine nach handwerklicher Manier hergestellt wurde (diesem Käse werde ich ein separates Tagebuchblatt widmen). Die museale Käserei ist in der ehemaligen Ferme (dem Gutsbetrieb) untergebracht, einer voluminösen symmetrischen Anlage mit barockem Fassadenaufbau. Unverhofft erhielten wir hier von Herrn Graber in seinem anheimelnden Berner Dialekt eine anschauliche Geschichtslektion über das Grenzgebiet Jura/Bern, sogar in naturgeschichtlicher Hinsicht: Ursprünglich war diese Landschaft mit Laubbäumen bestückt, die dann zur Kohlegewinnung und für den Verbrauch in Glashütten abgeholzt wurden. An ihrer Stelle wurden Tannen in Reihen quer zur Windrichtung gesetzt, um die rauen Höhenwinde abzumildern. Sie verbreiteten sich in dieser Gegend gern.
 
Der jagende Propst, der sich verlief
Der geschichtskundige Verwalter Graber zeigte einen Plan, auf dem die Ausdehnung des Bistums Basel zwischen 1032 und 1797 eingezeichnet ist: So lange bildete das Kloster Bellelay eine autonome Herrschaft innerhalb des Fürstbistums Basel. Und der Hobby-Historiker gab auch die Gründungslegende zum Besten, wonach sich der erwähnte Propst Siginandus bei der Jagd auf ein Wildschwein in den Wäldern des Hochjuras verirrt haben soll. Nachdem der Eber erlegt war, fand der hochwürdige Jäger den Heimweg nicht mehr. Erfüllt von Angst und von Hunger gequält rief er den Beistand Gottes an, wobei der Angsthase das Gelübde ablegte, ein Kloster zu stiften, wenn er da wieder herausfinde. Der Beistand erfolgte ob solch eines Angebots selbstverständlich; der Propst fand nach 4 Tagen heil nach Moutier zurück und liess vorerst eine Kapelle (la petite chapelle) erbauen, die „belle laie“ (schöne Sau) geheissen haben soll; es gibt auch noch andere Namensdeutungen wie „bella lagia“ oder Balelaia = schöner Wald. Die 3. Version führt das Wort auf „belle eau“ = schönes Wasser zurück.
 
Im Kloster, das allmählich heranwuchs, vor allem in den Jahren 1136 und 1142, übten nacheinander 42 namentlich bekannte Äbte ihre Herrschaft aus; seit Innozenz II. hatte die Anlage auch noch den päpstlichen Segen. Zur Anlage gehörten ein reicher Landbesitz und mehrere Bauernhöfe; der Wein kam aus La Neuveville. Im 18. Jahrhundert wurden die Klostergebäude erneuert. Zuerst war die barocke Kirche an der Reihe, welcher sich der Baumeister Franz Beer (von Blaichten) annahm. Sie ist im Vorarlberger Barockstil erbaut und wurde in der heutigen Form 1714 geweiht. Sie sieht jener von St-Ursanne ähnlich.
 
Die diebischen Franzosen
1797 krempelten französische Truppen die Besitzverhältnisse um; das Kloster wurde säkularisiert und war nun ein Teil von Frankreich, ebenso das übrige Fürstbistum Basel. „Die Franzosen haben Bellelay legal gestohlen“, sagte Graber. Doch als der grosse napoleonische Krieg beendet war und die Staatsmänner und Fürsten 1815 am Wiener Kongress Europa neu ordneten, geriet das Bistum Basel (einschliesslich Bellelay) in die Liquidationsmasse des Ancien Régimes. Das Juragebiet war Bern als Kompensation für die 1803 verlorenen Aargau und Waadt offeriert worden; Bern willigte erst nach etwelchem Zögern ein. Die katholische Kirche erhielt einen Sonderstatus in diesem sonst durchwegs reformierten Kanton.
 
Jurafrage teilweise gelöst
Dass die Einbindung in den Kanton Bern nicht für die Ewigkeit war, weiss man spätestens seit den separatistischen Bestrebungen vor allem im mehrheitlich katholischen Norden des Juras, die auf den 01.01.1979 zu einer neuen Kantonsgründung führten. Religiöse Aspekte spielten eine grosse Rolle. „Der Kanton Jura fängt dort an, wo die Reformation aufgehört hat“, sagte Verwalter Graber bei seinem geschichtlichen Exkurs zutreffend; er brachte die Geographie auf einen einfachen Nenner. Doch ist die Jurafrage damit nicht vollständig beantwortet; es gibt auch im bernischen Südjura sezessionistische (abtrünnige) Kräfte. Die Assemblée interjurassienne (eine nationale Kommission) arbeitet an der Lösung der ungelösten Jurafrage. Denkbar eine Erweiterung des Kantons Jura (dem Nordjura) mit dem Südjura (Jura bernois), auf dass das jurassische Volk als Ganzes wiedervereinigt wäre. Ich verfolge die weitere Entwicklung mit dem gebührenden Interesse – denn als Bewohner des aargauischen Südjuras interessieren mich alle jurassischen Aspekte, auch jene auf der Nordseite des Hügelzugs, die alle ihre besonderen Eigenschaften haben. Der Südfuss (zwischen Genf und Baden) ist sogar von der Nagra als ein möglicher Standort für ein Atommülllager auserkoren worden: 14 Solothurner und 10 Aargauer Gemeinden wären dafür geeignet, was beweist, auf welch solidem Fundament wir stehen. Das Schwarz-Peter-Spiel hat schon begonnen.
 
Was nach dem Kloster kam
Ab dem 19. Jahrhundert dienten die Klostergebäude von Bellelay als Uhrenfabrik, dann als Brauerei und schliesslich als Glashütte. Die Kirche wurde als Stall oder Scheune verwendet und damit den himmlischen Zwecken entfremdet; die Doppeltürme zerfielen teilweise. 1891 kaufte der Kanton Bern das Kloster zum Schnäppchenpreis von 150 000 Franken aus der Konkursmasse der Glashütte.
 
Die Käserei befand sich in der „Domaine Bellelay“ (www.domaine-bellelay.ch), wenige Meter vom Kloster entfernt; in diesem eindrücklichen, typischen jurassischen Bau, dessen oberer Teil (Dachbereich) über eine renovationsbedürftige Rampe zu erreichen ist, sind nun die spärlichen Überreste der Käserei und ein etwas unbeholfen eingerichtetes landwirtschaftliches Museum mit vielen Geräten für die Getreidebehandlung, Schlitten, Kutschen und Hinweisen auf die Zucht der Freiberger Pferderasse. Im Erdgeschoss renovierte Räume, die auch für Feste, Seminare und als Übernachtungsmöglichkeit genutzt werden können.
 
Die Domaine Bellelay
Die Geschichte, von Napoléon massgebend gestaltet, verfolgt einen in Bellelay auf Schritt und Tritt. Die Domaine wurde 2000 im Auftrag des Kantons Bern mit rund 11 Mio. CHF aufwändig restauriert und in eine Stiftung überführt, die im Dezember 2004 Konkurs ging; 3 Mio. CHF Schulden hatten sich aufgehäuft. Die opulente Anlage ging an den Kanton Bern zurück, der sie ab April 2006 an 2 neue Besitzer veräusserte, aufgeteilt in den Landwirtschaftsbetrieb und das Pferdezentrum mit den pferdesportlichen Anlagen und Weiden.
 
Seit 2006 gehört das Centre Equestre mit den Stallungen, der grossen Reithalle und den Weiden Gérard und Evi Lachat-von Känel. Evi ist die Tochter einer Schwester meiner Frau (Greti von Känel-Pfosi) – und dies war der Grund unseres Besuchs.
 
Im „Bären“
Doch vorher kehrten wir noch im Hotel „Bären“ ein, das einzige Gasthaus hier; es ist im Besitz des Staats Bern. Bellelay war ein wichtiger Durchfahrtsort, auch der Warentransport (Salz, Weizen usf.) führte hier vorbei. Deshalb wurde 1698 dieses grosse Hotel (L’Hôtel de l’Ours) gebaut, worin wir zu Mittag wollten. Das lokale Gastgewerbe gehört unbedingt dazu, wenn ich ein Gebiet unter die Lupe nehme.
 
Das Haus ist aussen eindrücklicher als innen. Und vonseiten meiner Begleiter wurde die Vermutung geäussert, dass hier die Gaststättenkontrolleure wahrscheinlich ein Auge zugedrückt hätten. Larry Hung, der sich in jeder Lebenslage zu helfen weiss, wischte den Tisch mit einem Bierdeckel notdürftig ab. Wir wählten das Menu. Das Fleisch und die Sauce schmeckten recht gut, die Teigwaren-Krawättli waren zerkocht und der Fendant von einem kleinen Winzer im Wallis liess nichts zu wünschen übrig. Als wir das Haus verliessen, war der korpulente Wirt eingeschlafen – eine verdiente Mittagsruhe nach all dem Stress. Ein ausgestopfter Bär beim Ausgang schien um Gnade für seine Nachfahren zu bitten.
 
Wir begaben uns zum nahen Reithof, wo bis zu 120 Pferde Platz finden und wo uns Evi Lachat herzlich empfing und durch ihre Anlage führte. Ich hatte reichlich Gelegenheit, mein unterentwickeltes hippologisches Wissen aufzufrischen. Als ich zu Evi bei der ersten Begegnung mit einem braunen Pferd mit schwarzem Mähnenansatz auf gut Glück sagte, das sei jetzt gewiss ein Freiberger, antwortete sie: „Nein, ein Schweizer.“ Sie wusste nun, dass sie ganz einfach und laienverständlich erklären musste. Mein Pferdewissen, das ich mir in den 1960er-Jahren als Pressechef der Aarauer Pferderennen angeeignet habe, ging inzwischen vergessen, wie man sieht. Doch sind in den Multikultizeiten auch die Pferderassen schon etwas durcheinander geraten, immerhin ein kleiner Trost.
 
Hinweis auf ein weiteres Blog über den Kanton Jura
05.07.2006: Kanton Jura: Ein Augenschein ganz am Rande der Welt
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