Textatelier
BLOG vom: 23.07.2009

Infantilität grassiert: Die betreuungsbedürftige Gesellschaft

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Zivilisation auf dem Höhepunkt: Die Gesellschaft wird heute wie ein Rudel unbedarfter Kleinkinder betreut. Was immer wir auch tun, sind wir von Warnhinweisen und Verhaltensanweisungen begleitet. Es werden sogar harmlose Erscheinungen wie die Amerikagrippe (Schweinegrippe) zu Lebensbedrohungen für Millionen hochstilisiert, um die in Panik versetzten Menschen gefügig zu machen. Bereits sind Grossverteiler und Industriefirmen angehalten, Katastrophenpläne auszuarbeiten, als ob sie nichts Gescheiteres zu tun hätten. Endstation Überwachungsstaat. Der Zahlungsverkehr ist bereits unter US-Kontrolle (SWIFT). Und wer die Bankdaten nicht offenlegt, wird erpresst, von der Wertegemeinschaft, die Macht und Reichtum sammelt; er wird mit Sanktionen überschüttet, in den Ruin getrieben.
 
Das beginnt meistens ganz harmlos, gut gemeint. So habe ich dieser Tage um 9 Uhr morgens wieder einmal mit dem von mir sehr geschätzten bayerischen Fernsehsender B3 („Tele-Gym“) ein paar simple Übungen zur Verbesserung des Gleichgewichts und der Beweglichkeit unter der Anleitung der zackigen, gleichwohl charmanten und gereiften Mia Schmidt mitgemacht – einige aufgestellte, ältere Statisten im Studio befolgten die Anleitungen zum Schwingen der Arme, stellten die Füsse nacheinander auf einen Stuhl, winkten mit den Zehen und hoben sogar den ganzen Fuss an, einen nach dem anderen, ich ebenfalls. Nur auf die Verbreitung von Osteoporoseängsten könnte ich im Zusammenhang mit den TV-Turnübungen gern verzichten.
 
Und unten am Bildschirm wurden wir, die muntere, unbeholfene TV-Turnerschar, mit Hilfe eines Laufbands aufgerufen, zur Sicherheit doch einen ärztlichen Checkup zu machen oder „seinen" Orthopäden zu befragen, wenn wir hier mitmachen wollten (die Sendung dauert nur 15 Minuten – und der Checkup wäre nicht einmal rechtzeitig zu bewältigen, wenn der Notfall planmässig funktionieren würde).
 
Hätte ich meine Knie- und Zehenbewegungen und das Schwingen der Arme über einer Stuhllehne unterbrechen sollen, um mich präventiv für einen Checkup im Hinblick auf weitere Turnübungen anzumelden? Aber wäre der stark befahrene Weg zum Hausarzt nicht die noch grössere Gefahr?
 
Kürzlich habe ich von einer Bekannten mit leichten Rückenproblemen gehört, deren Heilerin sie aufgefordert hat, sie solle sogar das Staubsaugern unterlassen ... ohne sich über das Gewicht des Staubsaugermodells zu erkundigen. Wichtig ist, dass sich die Leute in guten Händen fühlen. Gefühle dominieren den Verstand. Sie werden wie rohe Eier behandelt und dann stilrein in die Pfanne gehauen.
 
Als ich am 05.06.2008 an einer Exkursion am Escherkanal entlang teilnahm, wo gerade einige Bagger baggerten, mussten wir aus versicherungstechnischen Gründen eine orangefarbene Signalweste tragen. Man hätte uns besser gefunden, falls wir von einem plötzlich hereinbrechenden Hochwasser weggespült worden wären (Suchaktionen sind teuer). Wir haben an jenem sonnigen, trockenen Tag überlebt, einmal mehr.
 
Bevor ich ein Naturheilmittelchen oder sonst eine Tablette schlucke, was bei mir zwar praktisch selten vorkommt, werde ich aufgefordert, zuerst einmal die Packungsbeilage zu lesen und mit einem Arzt oder Apotheker zu sprechen. Dabei sind aus ärztlicher Sicht Patienten, die fragen, Problempatienten und im Allgemeinen nicht besonders gern gesehen. Bei mir drängt sich dabei die Frage auf, was denn das für gefährliche Sachen seien, die unter dem gefahrvollen Begriff „Arzneimittel“ laufen ... also werde ich es bleiben lassen – das Arztgespräch und das Schlucken von Chemiegiften.
 
Selbst vor der Sonne werden wir gewarnt, wegen des Hautkrebses. Aber wenn es am kommenden Wochenende in der Südtürkei voraussichtlich 5 °C wärmer ist als bei uns, empfehlen uns die Meteorologen vom Dienst, dorthin zu fliegen. Beim Einchecken werden uns die Sonnenschutzcremen abgenommen, weil es sich ja um Sprengstoff handeln könnte. Al-Kaida lässt grüssen und liefert ohne viel eigenes Zutun beste Überwachungsargumente.
 
Im Frühjahr überquellen die Medien vor Pollenwarnungen, als ob die Zeit des Blühens eine Lebensbedrohung sei. Und falls eine Biene anfliegt, so weit sie noch nicht im Insektizidnebel verendete, muss man damit rechnen, dass es sich um eine Killer-Biene handeln könnte. Etwas Hollywood-Atmosphäre muss schon sein.
 
Wer sich nicht gegen jedes Bakterium und jedes Virus impfen lässt, bis das Immunsystem im Eimer ist, wird zur globalen Gefahr und gehört hinter Gitter, in die Quarantäne. Ich bleibe dennoch standhaft: Mit einer Impfnadel braucht mir niemand zu nahe zu kommen. Sonst werde ich aggressiv.
 
Allergien und Pseudoallergien wuchern. Wenn irgendwo eine mit der Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME) beladene Zecke, eine Vogel- oder eine Schweinegrippe auftaucht, sind alle Geschäftemacher so ausser sich vor Freude, dass solche Themen während Tagen, Wochen und Monaten die Medien beherrschen, bis dann auch der Gutgläubigste herausgefunden hat, dass hier nur mit der Angst der Menschen gespielt wird – oder aber bereits wegen der erdrückenden Fülle gleich lautender Mainstreammeldungen das Gefühl erhält, es müsse doch etwas dran sein. Im Winter werden wir vor Vereisungen gewarnt, weil wir sonst laufend ausrutschen. Selber würde das wohl niemand herausfinden. Seien Sie vorsichtig!
 
Das Rauchen ist sowieso verboten (geraucht wird dann hintenherum; der Reiz des Verbotenen erhöht den Genuss). Erlaubt bleibt aber das noch mehr luftverpestende Autofahren; das wird im Interesse der Wirtschaftswiederbelebung sogar gefördert. Chemisch gestylte Industriekost gehört zum Geschäft, also ist sie erlaubt. Aus den gleichen Gründen kommen die virtuellen Killerspiele ungeschoren davon.
 
Auch der Handygebrauch, der wegen der elektromagnetischen Strahlung zu Zell- bzw. DNA-Schäden führt, geht durch. Die Handygefahren möchte ich hier nicht dramatisieren. Aber es ist unverkennbar, dass schon einige Gehirne gegart worden sind. Endstation Psychi. Siehe dazu unten: „mein Psychiater“. Nirgends auf der Welt werden mehr Psychopharmaka als in den USA geschluckt. Laut einer Harvard-Studie ist jeder 2. Amerikaner einmal in seinem Leben von einer psychischen Störung befallen, wobei das Elend schon bei den Kindern beginnt. Die US-Politik und der dortige Lebensstil sind die Bestätigungen dafür.
 
Wahrscheinlich wird man, wenn die Infantilisierung weitergetrieben werden kann, falls also der Tiefpunkt noch nicht erreicht sein sollte, demnächst auch unser Brot mit einem Warnhinweis versehen müssen, zumal es Leute gibt, die Gluten nicht vertragen: „Bevor sie von diesem Brot essen, fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker.“ Und bevor ich die Wanderschuhe anziehe, werde ich wohl demnächst darauf aufmerksam gemacht werden, dass ich mich damit bitte nicht zu weit an Felskanten vorwagen sollte. Nur vor überflüssigen, blödsinnigen Warnhinweisen bleibe ich vollkommen ungeschützt.
 
Die ständige, übertriebene, ja exzessive Warnerei kam aus den USA zu uns herübergeschwommen. Denn ein Heer von Geschäftemacher-Advokaten wartet dort gierig darauf, dass etwas passiert, für das man jemand anderem, zum Beispiel einem Hersteller, die Schuld in die Schuhe schieben und aus dem man dann einige Millionen USD herausholen könnte. Wenn ein Amerikaner eine zuvor lebendige Katze im Mikrowellenherd trocknete und der Herdhersteller keinen entsprechenden Warnhinweis in der Bildersprache auf das Gerät klebte, dann Gnade ihm Gott. Das wird für den Produzenten ruinös.
 
Was mich an all diesen Ratschlägen stört (auch wenn ich der Amerikanisierung wegen dafür zum Teil sogar Verständnis habe), ist der Umstand, dass ich mich wie ein Säugling direkt nach dem Abnabeln behandeln lassen muss. Womit ich allerdings die Säuglinge nicht etwa beleidigen möchte; ihre Intelligenz ist ja in der Regel so lange, bis sie mit unserem Erziehungs- und Bildungssystem in Kontakt kommen, noch in Ordnung.
 
Für mich ist es unerträglich, ständig zu Arztbesuchen und damit zur Patientenkarriere gedrängt zu werden. Denn ich sollte ja eigentlich am besten selber spüren, wenn mit mir etwas nicht stimmt und ob eine Untersuchung zweckmässig sein könnte. Mich interessieren weder mein Blutdruck, mein Blutzuckergehalt, noch mein Cholesterinbestand, so lange ich mich ausgezeichnet fühle, leistungsfähig bin und herrlich schlafen kann. Und wenn etwas aus den Fugen zu geraten schiene, würde ich mich zuerst einmal selber aufraffen, für eine Verbesserung besorgt zu ein. Niemand kennt ja mein Verhalten und auch mein allfälliges Fehlverhalten so gut wie ich selber. Ich überwache mich unbewusst rund um die Uhr, ohne dabei ständig auf der Suche nach Krankheitszeichen zu sein – das ist also keineswegs eine Dauerbeschäftigung mit dem eigenen Ego. Ich weiss einfach, was ich alles angestellt habe, wenn ein Alarmzeichen auftritt, und kann entsprechende Verbesserungen einleiten.
 
Das Mitläufertum und die damit einhergehende Unterordnung unter Betreuungsinstitutionen widerstrebt mir. Weil ich demzufolge auch als Fan denkbar ungeeignet bin, habe ich auch nicht „meinen Fussballclub“. „Meiner Bank“ und „meiner Garage“ halte ich die Treue, so lange sie gut und anständig arbeiten. Sonst wechsle ich sie unverzüglich aus. So halte ich es auch mit meinen Versicherungen.
 
Einen Ernährungsberater kann ich mir schenken. Ich interessiere mich überhaupt nicht für Ernährungsratschläge und Diäten. Mir genügt es zu erfahren, wo und wie die Lebensmittel produziert wurden und was in verarbeitete Naturprodukte alles hineinvermanscht wurde. Dann werde ich mich aufgrund meiner eigenen Kenntnisse und Erkenntnisse in Verbindung mit dem Spürsinn für das, was mir persönlich gut tut, schon selber entscheiden können. Und wenn ich irgendwo eine Wissenslücke orte, beschaffe ich mir einschlägige Literatur, oder aber ich frage einen Fachmann – aus eigenem Antrieb und nicht unter Befehlsdruck. Aber ich halte mir nicht „meinen Psychiater“, und sogar ohne Bodyguard komme ich noch aus. Jedenfalls bis anhin. Auch einen Partnerschaftsmoderator, in grauer Vorzeit „Eheberater“ genannt, erachte ich als überflüssig. Partnerschaftsprobleme löse ich selber.
 
Die ständige Erniedrigung der Menschen bis hin zum Gefühl der Unmündigkeit und zum geistigen Totalschaden hat System, zu dem auch die eingangs erwähnte Totalüberwachung, angeblich zu jedermanns Schutz, gehört. Das gleiche Kapitel umfasst auch die Modediktate, die nicht nur die Kleider, sondern – und das ist noch weit schlimmer – auch die Denkweisen umfassen. Die Medien liefern gleich vorgekautes Essen in der Form eines Einheitsbreis. Was alle sagen und laufend wiederholt wird, muss ja schliesslich stimmen ...
 
Bei den Massen muss nur eines verhindert werden: das Denken. Denn – laut Voltaire – ist diesbezüglich grösste Vorsicht geboten: „Wenn einmal eine Nation zu denken beginnt, ist es unmöglich, sie daran zu hindern.“
 
Vorbeugen ist alleweil besser als heilen. Ich empfehle einen Gehirn-Checkup. Bei Ihrem Gehirn-Neurologen.
 
Hinweis auf weitere Feuilletons von Walter Hess
Hinweis auf weitere Blogs von Scholz Heinz
Auf Pilzpirsch: Essbare von giftigen Pilzen erkennen
Ein bärenstarkes Museum in Gersbach
Barfuss über die Alpen
Foto-Blog: Auf geht`s zur Hohen Möhr
Foto-Blog: Vom Kleinen Rhein zum Altrhein
Fotoblog über den Schönauer Philosophenweg
Rote Bete (Rande), eines der gesündesten Gemüse
Hermann-Löns-Grab im Wacholderhain
Lüneburger Heide: Salzsau und Heidschnucken
Kutschenmuseum in Wiechs ist ein Schmuckstück
Canna verleihen einen Hauch karibisches Flair
Artenreiche Streuobstwiesen stark gefährdet
Liebe zu den Kräutern in die Wiege gelegt
Eine Hütte mit Fleischsuppe im Namen
Rätsel um die Russenbänke in Präg gelöst