Textatelier
BLOG vom: 22.01.2010

Verkrustete Ansichten: Soll man das Fleisch scharf anbraten?

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein/AG CH (Textatelier.com)
 
Im herrlichen Duft eines festlichen, hausgemachten Hackbratens nach Grossmutterart sprachen wir im Familienkreis dieser Tage über das Anbraten von Fleisch und die Erkenntnisse, die zu diesem lebenswichtigen Thema zirkulieren. Der bekannte Zürcher Koch Peter Brunner vom Restaurant Kaiser’s Reblaube schrieb im Buch „zart und deftig“ (Seite 127): „Mit dem Anbraten schliesst man keine Poren. Muskelfleisch hat keine Poren, sondern besteht aus Fasern, und es ist mehrfach experimentell bewiesen, dass scharfes Anbraten weder irgendwelche Poren schliesst, noch das Austreten von Fleischsaft verhindert. In Tat und Wahrheit verliert jedes Fleischstück beim Erhitzen über 90 Grad etwas Saft.“
 
Die Erkenntnis der Porenlosigkeit des Fleisches geht meines Wissens auf Wolfgang Lutz vom deutschen Institut für Fleischforschung, Fleischtechnologie und Qualitätssicherung e. V. in Frankfurt am Main zurück, der sagte, es gebe keine Löcher, die es zu schliessen gälte. Fleisch besteht nach seinen Erkenntnissen aus Muskelzellen. Beim Anbraten werden die Oberflächenproteine der äusseren Zellen karamellisiert, und diese so genannte Maillard-Reaktion (benannt nach dem Chemiker Louis Camille Maillard) sorgt für die wohlschmeckende Kruste – Aminosäuren und reduzierende Zucker werden in neue, geschmacksintensive Verbindungen umgewandelt. Es gebe aber keinerlei Anzeichen dafür, dass diese Kruste wasserdicht sei, sagte Lutz noch.
 
Die Erkenntnis von der Porenlosigkeit bis hin zum Sens oder Nonsens des Anbratens wird jetzt überall nachgebetet. Stimmt sie? Jedenfalls überrascht sie. Der französische Meisterkoch Georges Auguste Escoffier (1846‒1935), der die französische Haute Cuisine wesentlich prägte und mit seinem Kochkunstführer „Le Guide Culinaire“ Weltruhm erlangte, schrieb: „Durch das Braten auf dem Rost wollen wir eine Konzentration hervorrufen, d. h. wir wollen durch das Rösten den Saft oder den Nährwert im Inneren eines Stücks konzentrieren.“ Er mass diesem Thema grosse Bedeutung bei, zumal das Rösten, eigentlich das Braten auf dem offenen Feuer, der Ausgangspunkt der ganzen Kochkunst, der „Genesis“, ist.
 
Der Meister schrieb im Weiteren: „Wenn es sich um grosse Stücke von Rind- oder Hammelfleisch handelt, muss die schützende Kruste stärker sein, je besser die Qualität des Fleischs und infolgedessen um so saftiger ist es. Der Druck der Säfte gegen die äussere Kruste wird um so stärker, je mehr davon vorhanden sind und die Hitze zunimmt. Wenn nun die Feuerung richtig reguliert wird und die Hitze allmählich vordringt, ergibt sich Folgendes: Die durch das Feuer erzeugte Hitze dringt allmählich in das Stück und drängt die Säfte nach innen. wo sie sich, durch die äussere Kruste behindert, nach aussen zu fliessen erhitzen und das Garwerden verursachen.“
 
Also sprach der Meister, und er sprach meines Erachtens gut. Die Kruste ist tatsächlich wohlschmeckend, und das scharfe Anbraten verkürzt die Garzeit, so dass der Saft nicht genügend Zeit findet, aus dem Fleisch auszutreten – was aber dennoch austritt, verhilft der Sauce zu Höhenflügen.
 
Folglich spielt es keine Rolle, ob das Muskelfleisch Poren (kleine Löcher, Öffnungen) hat oder nicht, sondern die Frage reduziert sich schlicht und ergreifend darauf, ob eine Kruste zweckmässig ist oder nicht. Ich persönlich liebe Krusten, schätze Kurzgebratenes mehr als das langsam Gebratene. Ich habe schon oft saft- und kraftlose Fleischstücke aus der Langsam-Garküche (Niedertemperatur-Garen NT) erlebt, die mich an einen mit warmem Wasser getränkten Waschlappen erinnerten, weich und zart – und sonst gar nichts. Die Zartheit kann ja nicht das oberste und einzige Kriterium für einen vollendeten Fleischgenuss sein. Mir ist beim Fleisch etwas Biss lieber als eine exzessive Weichheit, zumal meine Zähne ihren Dienst noch immer versehen. Also werde ich weiterhin für Krusten sorgen.
 
Die Porenfrage habe ich an Proviande, Finkenhubelweg 11 in CH-3001 Bern, gestellt. Der Projektleiter Produkte-PR, Erich Schlumpf, antwortete: „Tatsächlich sollte man langsam davon absehen, beim Muskelfleisch von Poren zu sprechen. Die Fleischoberfläche ist zwar strukturiert und porös – wie beim Holz – hat aber nicht wirklich Poren.
 
Jedoch wird beim Braten das im Fleisch enthaltene Eiweiss aktiviert, welches durchs Gerinnen das Fleisch verschliesst, wodurch wiederum weniger Saft austritt. Ein vollständiges Verschliessen ist jedoch nicht möglich, so dass beim Erhitzen immer etwas Saft austritt (Fleisch enthält ja etwa 70 % Wasser und 20 % Eiweiss).
 
Auch bei anderen Produkten wie beim Hackbraten (Beigabe eines Hühnereies) und bei den Würsten ist das gerinnende Eiweiss dafür verantwortlich, dass die gewünschte Festigkeit eintritt – übrigens genauso wie beim Braten eines Spiegeleies …
 
Ich hoffe, dass wir damit Ihre Anfrage genügend beantworten konnten. Viele Information zum Thema Fleisch und Ernährung finden Sie im auch auf unserer Internetseite http://www.schweizerfleisch.ch.“
 
Diese Antwort trifft den Sachverhalt meines Erachtens genau: Ein scharfes Anbraten reduziert den Saftaustritt, Poren oder Porenlosigkeit beziehungsweise Art der Oberflächenstruktur des Muskelfleischs hin oder her. Gut angebraten wurde sicher auch Wilhelm Buschs Haus: „Es wird mit Recht ein guter Braten gerechnet zu den guten Taten; und dass man ihn gehörig mache, ist weibliche Charaktersache.“
 
Man darf nichts anbrennen lassen und sollte den Braten immer rechtzeitig riechen.
 
Anhang
 
„Kritik des Herzens“ von Wilhelm Busch
 
Es wird mit Recht ein guter Braten
Gerechnet zu den guten Taten;
Und dass man ihn gehörig mache,
Ist weibliche Charaktersache.
 
Ein braves Mädchen braucht dazu
Mal erstens reine Seelenruh,
Dass bei Verwendung der Gewürze
Sie sich nicht hastig überstürze.
 
Dann zweitens braucht sie Sinnigkeit,
ja, sozusagen Innigkeit,
Damit sie alles appetitlich,
Bald so, bald so und recht gemütlich
Begiessen, drehn und wenden könne,
Dass an der Sache nichts verbrenne.
 
In Summa braucht sie Herzensgüte,
Ein sanftes Sorgen im Gemüte,
Fast etwas Liebe insofern,
Für all die hübschen, edlen Herrn,
Die diesen Braten essen sollen
Und immer gern was Gutes wollen.
 
 
Ich weiss, dass hier ein jeder spricht:
Ein böses Mädchen kann es nicht.
Drum hab' ich mir auch stets gedacht
Zu Haus und anderwärts:
Wer einen guten Braten macht,
Hat auch ein gutes Herz.
 
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