Textatelier
BLOG vom: 29.01.2010

Albert Camus und die Tierversuche: Die Technik der Angst

Autorin: Lislott Pfaff, Schriftstellerin, Liestal BL/CH
 
„Das 17. Jahrhundert war das Jahrhundert der Mathematik, das 18. jenes der Naturwissenschaften und das 19. jenes der Biologie. Das unsrige, das 20. Jahrhundert, ist das Jahrhundert der Angst“, schrieb Albert Camus in seinem Essay „Weder Opfer noch Henker“ im Jahr 1946 und meinte ferner: „Und wenn die Angst an sich auch nicht als Wissenschaft betrachtet werden kann, so besteht doch kein Zweifel darüber, dass sie eine Technik ist.“
 
Wie Recht er damit hatte! Die Angst ist tatsächlich eine Technik, eine Strategie, mit der sich die einfachsten Wahrheiten in ihr Gegenteil verkehren lassen. Diese Technik der Angst wurde und wird vor allem auch in den Tierversuchs-Laboratorien entwickelt und verfeinert. Die Verhaltensforscher konzipieren raffiniert perfide Testmodelle mit verschiedenen Tierarten, an denen sie demonstrieren, wie man Tier (und Mensch) das Fürchten lehren kann. Und da das 21. Jahrhundert jenes der Technik ist, fällt es den Tierforschern umso leichter, diese Technik auf die Erzeugung von Angst anzuwenden. Solchen Versuchsanordnungen liegt eine zynische Überheblichkeit gegenüber dem „untergeordneten“ Lebewesen, ein anmassender Forscherfeudalismus, zugrunde.
 
Die Technik der Angst wurde jeweils auch im Abstimmungskampf gegen die 3 in der Vergangenheit lancierten Volksinitiativen zur Abschaffung der grausamen Tierversuche (1985, 1992, 1993) angewandt. In schönster Harmonie mit der Pharmaindustrie setzten Universitäten, Politiker und Behörden alle Hebel in Bewegung, um in der Öffentlichkeit die Emotionen der Angst zu schüren. So schaffte man (und schafft man auch heute wieder – siehe Schweinegrippe) bei der Bevölkerung ein Krankheitsbewusstsein und behauptete, ein Verbot der grausamen Tierversuche bedeute eine Katastrophe für das Gesundheitswesen, obwohl man lediglich eine Katastrophe für die Tierforschung befürchtete. So stellte man das auch heute noch immer wieder heruntergebetete Dogma auf, Tierversuche seien für den Schutz des Patienten notwendig, obwohl man den Schutz des Produzenten (vor Schadensklagen) im Auge hatte. So drohte man, die Abschaffung der grausamen Tierversuche würde den Verlust von Tausenden von Arbeitsplätzen nach sich ziehen, obwohl man eigentlich um den Verlust von Millionenumsätzen bangte.
 
Gerade dieser letztere Versuch der Panikmache erinnerte fataler- und peinlicherweise an den berüchtigten Slogan „ohne Strom kein Lohn“, mit dem ebenfalls mit der Angst der Stimmbürger gespielt worden war. Wer die Erläuterungen des Bundesrats zur Volksabstimmung über die Atom- und Energie-Initiative vom 23.09.1984 las, stellte mit Erstaunen fest, dass darin dieselben Argumente figurierten, die später gegen die Initiative zur Abschaffung der grausamen Tierversuche ins Feld geführt wurden: Behinderung der Wirtschaftsentwicklung, Gefährdung der Konkurrenzfähigkeit gegenüber dem Ausland, Erhöhung der Arbeitslosigkeit und Infragestellung unseres sakrosankten Wohlstandes. Offenbar lassen sich jeweils für Volksabstimmungen immer wieder dieselben praktischen Formulierungen aus der politischen Mottenkiste hervorholen.
 
Etwas nuancierter hatte sich damals der Basler Ständerat Carl Miville ausgedrückt, als er den Tierversuch ein „Dilemma“ nannte, vermutlich in Anlehnung an das „Dilemma“ der Umweltzerstörung. Er halte Tierversuche zur Kontrolle von Giftstoffen für ein „notwendiges Übel“, sagte er, und hielt deshalb wohl auch die Giftstoffe selbst, die dank Tierversuchen in zunehmendem Mass in die Umwelt gelangen, für ein notwendiges Übel; denn ein Gift ist nach dem Test am Tier nicht weniger giftig als zuvor. Allerdings kann man sich fragen, ob noch mehr neue Farbstoffe, Kosmetika, Hobby- und Haushaltsprodukte und Agrochemikalien für das Wohl der Menschheit tatsächlich unerlässlich sind.
 
Was die Erforschung und Entwicklung neuer Medikamente anbelangt, möchte ich eine Persönlichkeit zitieren, die nicht aus den Kreisen der sogenannten Antivisektions-Fanatiker stammt, den Pharmaleiter von Hoechst Frankfurt, Dr. Hansgeorg Gareis, der einmal seufzte: „Unsere Tierversuche geben immer nur Hinweise für die Wirkung am Menschen, nie die Sicherheit ihrer Übertragbarkeit. Unser Sicherheitsbedürfnis zwingt uns also, Arbeiten durchzuführen, deren Wert wir zugleich in Frage stellen.“ Das wahre Gesicht eines Medikaments zeigt sich nämlich erst nach Anwendung am „Patientenmaterial“, wie die Kranken in klinischen Prüfungsberichten in logischer Parallele zum „Tiermaterial“ bezeichnet werden. Das Grimm-(ige) Märchen der Tierforscher ist also jenes von des Kaisers neuen Kleidern, welche die nackte Wahrheit einer Wissenschaft bedecken, die sich auf dem Holzweg befindet. Und die Medikamentenkatastrophen, die immer wieder in schöner Regelmässigkeit auftreten, beweisen zur Genüge, dass wir beim Tierversuch einem überholten Relikt aus dem letzten Jahrhundert huldigen – und das in einem Zeitalter, das jenes der Wende genannt wird.
 
Der Tierforscher stellt sich aber – z. B. als Toxikologe oder Pharmakologe – nicht nur in den Dienst von Kommerz und Konsum, von Produktion und Profit, er stellt sich auch in den Dienst des Kriegs und der totalen Zerstörung der Menschheit: An unvorstellbar brutalen Tiermodellen experimentiert er mit tödlichen Strahlen, mit biologischen und chemischen Waffen und demonstriert so im Labor, wozu er in der Praxis fähig wäre, nämlich auf der Erde einen infernalischen Holocaust zu inszenieren.
 
Der Schweizerische Nationalfonds (SNF) unterstützt die tierexperimentelle Grundlagenforschung an Universitäten und Universitätskliniken mit grosszügigen Beträgen, die der Bürger letztlich als Steuerzahler berappt und so einen sinnlosen Leerlauf finanziert, der sich auf dem Buckel der Tiere abspielt und der einzig jenen dient, die ihn in Gang halten. Und all diese Qualen, Leiden und Ängste werden von den kantonalen Aufsichtskommissionen anstandslos bewilligt. Der SNF unterstützte allein im Jahr 2008 Projekte der Abteilung „Biologie und Medizin“ mit 280 Mio CHF, wovon etwa 50 % auf Tierversuche entfielen.
 
Die Abschaffung der grausamen Tierversuche würde die Abschaffung einer überholten Forschung zugunsten fortschrittlicher, weil gewaltfreier Methoden bedeuten. Es wäre eine Absage an die Technik der Angst, die Zusicherung einer humanen Zukunft für Mensch und Tier. 
 
Quellen:
Albert Camus: „Weder Opfer noch Henker“ (Tintenfass Nr. 11, Diogenes Verlag).
Hansgeorg Gareis: „Arzneimittelforschung vor Stagnation oder Evolution“ (Ciba-Geigy Magazin 2/1981).
 
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