Textatelier
BLOG vom: 05.05.2010

GB: Wahlfieber und die Einflüsse der Motorway Men

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Angeblich soll der Autobahnmensch als Zünglein an den Waage 2010 das Wahlergebnis in Grossbritannien beeinflussen, erfahre ich aus dem Medien und schüttle ungläubig den Kopf.
 
Der Autobahnmensch wohnt ausserhalb der Zentren in der Nähe einer Autobahn Einfahrt- oder Ausfahrt. Autobahnmenschen leben, so wird ihnen jedenfalls nachgesagt, wurzellos in Neusiedlungen, die tagsüber ausgestorben sind. Ob Mann oder Frau, sie alle setzen sich frühmorgens hinters Steuer und fahren als Vertreter zu Kundenfirmen, die weit verstreut in Industriepärken angesiedelt sind und dort auch ihre Verteilungszentren haben.
 
Gemäss Meinungsumfragen sollen 43.6 % der Autobahnmenschen die „Tories“ (Konservative Partei)) bevorzugen. Nun traue ich solchen Umfragen nicht. Aber mich wundert es, wie sich diese Gattung von „homo sapiens“ verhält und welche Kaufgewohnheiten sie charakterisiert.
 
Darüber liegen Untersuchungen vor: Die Autobahnmenschen sind ausgeprägte Materialisten. Das beginnt mit dem Auto als ihr blankpoliertes Statussymbol, das mit allen Schikanen der Technologie ausgerüstet ist. Sie kaufen vorwiegend „gadgets“, immer das allerneueste Modell online. Diese ersetzen ihren fehlenden Bezug innerhalb einer dörflichen oder städtischen Gemeinschaft. Sie kaufen ihre Lebensmittel in den Supermärkten ausserhalb den Ballungszentren. Ihre Freizeit gehört den elektronischen Bildschirmen, die fürs Multitasking eingerichtet sind. Die Autobahnmenschen werden als Erste das 3-dimensionale Fernsehen anschaffen. Und sind sie erschöpft, strecken sie sich auf ihren Polstergruppen aus, die sie gemeinhin alle Jahre erneuern. Jetzt verstehe ich, weshalb in England so wahnsinnig viel Fernsehwerbung den klobigen Polstermöbeln gilt.
 
Auf langer Fahrt müssen die Autobahnmenschen gezwungenermassen oft übernachten – vorwiegend in den traurigen „Travel Lodges“ den Autostrassen entlang. Ihre Getränke und Schnellimbisse (wie schlappe Sandwiches, Mars Bars oder KitKat usw.) sichern sie sich aus den Automaten, die auf alle Stockwerke verteilt sind. Wie Schatten huschen die Autobahnmenschen aneinander vorbei in den langen Korridoren der „Travel Lodges“ ins Zimmer zurück.
 
Tagsüber, auf ihren monotonen Autobahnfahrten, halten sie hin und wieder bei einer der hässlich uniformen Grosstankstellen inne, tanken auf, entlasten sich vom Stuhl und stopfen oben nach. So suchen sie, nachdem sie aufgetankt haben, die trostlosen, angegliederten „Kathedralen des kulinarischen Entsetzens“ (Motto, Welcome Break, Roadchef) auf, die einander gleichen wie ein Huhn dem anderen. Und etwas vom Huhn wählen viele von der Heizplatte mit schlappen Pommes Frites garniert und zahlen grotesk viel für einen solchen Frass. Es kann auch ein „full English breakfast“ sein, das ganztags aufliegt. 
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Ich selbst bin jahrelang ein Autobahnmensch gewesen, als ich in Deutschland, Österreich, Frankreich, Belgien, Holland und natürlich auch in England Nahrungsmittelhersteller besuchen musste (des lieben Verdiensts wegen) innerhalb eines kolossalen Projekts einer Multinationalen. Wie oft habe ich mich auf den vierspurigen Geisterbahnen verfahren und die falsche Ausfahrt erwischt? Darüber habe ich in etlichen Blogs gejammert … Noch heute suchen mich hin und wieder Alpträume aus dieser Zeit heim, als ich unter gewaltigem Zeitdruck den Ort des Treffens „ums Verworgen“ erreichen musste.
 
Bei der Einfahrt auf die Autobahn bei Wien verlor ich meinen Pass, mein Geld, das Handy, die Landkarte und das Flugbillett, ausgerechnet als der Benzinanzeiger gegen Null wies. In meiner Hast hatte ich, nach dem Kartenstudium, meine Tasche mitsamt Landkarte aufs Wagendach gelegt und bin Tempo-Teufel weitergefahren. Doch der Schutzengel sprang mir bei. Ein Taxichauffeur hatte meine Notlage erkannt, angehalten und auf meine Bitte hin die Polizei avisiert. Eine halbe Stunde lang stand ich in tödlicher Gefahr neben dem Auto auf einer Ausfahrtinsel, links und rechts umflutet von rasenden Autos. Und dann kam nicht der Schutzengel, doch der „Schutzmann“: Er hatte mein Hab und Gut auf der Strasse gefunden und aufgelesen. Das war das 1. und einzige Mal in meinem Leben, dass ich einen Polizisten umarmt hatte. Und übrigens hatte ich nach diesem Malheur meinen nächsten Treffpunkt noch rechtzeitig erreicht.
 
Im Gegensatz zum typischen Autobahnmenschen hasse ich die Autobahnen. Wenn ich Zeit habe, trudle ich am liebsten Landstrassen entlang und unterbreche meine Fahrt, sei es um etwas einem Landgasthaus zu essen oder einen malerischen Dorfkern zu besichtigen.
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Zurück zum „Motorway Man“, wie er in England lebt: An seiner Stelle möchte ich lieber ein „Neandertaler“ sein. Das hätte obendrein den Vorteil, dass ich dem Geschwätz, „sound bites“ wird es in England genannt, der Politiker entrinne. Seit Monaten schon dauert der Wahlkampf. Statt sich um ihre wesentlichen Aufgaben zu kümmern, weibeln sie auf Autobahnen durchs Land. Somit sind Politiker ganz und gar überflüssig, meine ich. Immerhin ist am 6. Mai der ganze Wahlrummel vorbei – mit Ausnahme des gleicherweise langatmigen und langweiligen „post festum“.
 
Hinweis auf ein weiteres Blog über die Wahlen in Grossbritannien
29.04.2010: GB-Wahlkampf: Gordon Browns Schnitzer ohnegleichen
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