Textatelier
BLOG vom: 14.06.2010

Der Stabhochspringer (6): Der reumütige Hussein

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
6. Episode
Am Sonntagnachmittag brachte ihm Piet den Pass, diesmal Husseins echten ägyptischen, zusammen mit der Police seiner Krankenversicherung, die Hussein schon vor Jahren vorsorglicherweise abgeschlossen hatte.
 
Wie vom Journalisten geahnt, wurde dieser Diebstahl im Auftrag eines Sammlers ausgeführt, und zwar im Auftrag eines Scheichs, dessen Name hier verschwiegen sei. Dieser Scheich wollte alle anderen Sammler islamischer Kunst übertreffen und ergänzte seinen Bestand fortwährend, sei es über Mittelmänner auf Auktionen, sei es – wie auch diesmal – als Auftragsgeber von Diebstählen. So blieb Hussein nichts anderes übrig, als Piet mit der Auslieferung der Beute zu beauftragen, gegen Barbezahlung des im Voraus vereinbarten Betrags. Mühsam unterschrieb Hussein die erforderliche Ermächtigung, von Lina bezeugt, ohne dass sie wusste, worum es ging.
 
Wochen verstrichen, ehe Hussein zum 2. Mal operiert wurde. „Sie sind vorderhand noch immer gelähmt“, erfuhr er von der Schwester Lina. „Der Heilungsprozess lässt sich nicht forcieren. Lassen Sie sich aber nicht entmutigen!“ sprach sie ihm zu.
 
Kaum hatte sich Hussein halbwegs von der 2. Operation erholt, wurde er in ein NHS-Spital (National Health Service) eingewiesen. Dort lag er im Krankensaal. Das Essen war schlecht, die Betreuung der Kranken salopp. Tagtäglich besuchte ihn dort die treue Lina und versuchte, ihn aufzumuntern. Piet hatte inzwischen das Geschäft mit dem Scheich erfolgreich abgewickelt und überbrachte ihm dessen Genesungswünsche mitsamt dem Angebot, ihm zur besten Pflege in einer Privatklinik zu verhelfen.
 
Beim nächsten Besuch von Lina unterbreitete ihr Hussein sein persönliches Angebot: „Im NHS kriegst du einen Hungerlohn. Warum wirst du nicht meine persönliche Betreuerin? Du verdienst dabei bedeutend mehr, denn an Geld fehlt es nicht, und du wirst mir damit einen enormen Liebesdienst erweisen. Bitte!“ beschwörte er sie.
 
Das Wort „Liebesdienst“ drang tief in Linas Herz, denn sie hatte sich in Hussein verliebt und willigte in sein Angebot ein. Kurz später bezog Hussein sein Privatzimmer in einer Privatklinik. Piet hatte inzwischen für Lina eine Unterkunft ganz in der Nähe der Klinik gefunden.
 
Bei schönem Wetter schubste ihn Lina auf dem Rollstuhl in den Garten der Klinik. Sie setzte sich neben ihm auf eine beschattete Bank beim Springbrunnen. Der Springbrunnen plätscherte. Lina plauderte munter und lachte viel über ihre eigenen Scherze. Hussein hielt mit, immerhin darauf bedacht, seine diebische Vergangenheit zu verheimlichen. Diese Therapie verscheuchte Husseins Trübsal bis zu einem gewissen Grad.
 
Eine ganz andere Therapie begann für Hussein, von langwierigen Untersuchungen unterbrochen. Zuletzt wurde eine Nervenentzündung in seinem rechten Bein entdeckt. Während der langen Rekonvaleszenz hatte Hussein viel Zeit, seine Zukunft zu überdenken. Ähnlich wie der Nerv in seinem Bein, regte sich zuerst zögernd in Hussein ein Reuegefühl, das sich allmählich steigerte. Er war dem schlimmsten Unheil entronnen, sinnierte er, und sollte dafür eine gewisse Dankbarkeit zeigen – sogar Abbitte leisten.
 
Eines Tages wandte er sich an Piet: „Wir beide sind stinkreich geworden … Aber jetzt steht mir eine andere Zukunft bevor. Meine Hochstabsprünge gehören der Vergangenheit an. Ich zermartere mir das Hirn, welche Zukunft es sein könnte. Ich habe einige Ansatzpunkte, die ich dir darlegen möchte, sobald sie besser ausgereift sind. Mir scheint, dass ich einige gute Taten vollbringen sollte, statt weiterhin meine Tasche zu stopfen. Einst als Trotzkopf habe ich mich, wie du weisst, heftig gegen gesellschaftliche Konventionen gesträubt und die Korruption rings um mich angeprangert – und bin ihr selbst zum Opfer gefallen. Irgendwie muss ich den Frieden in mir suchen und finden. Wie siehst du deine Zukunft, ganz unbeeinflusst von mir?“
 
Bedächtig wie immer schwieg Piet lange. „Was kann ich dazu sagen?“ gestand Piet schliesslich. „Ich bin 20 Jahre älter als du, bin als Abenteurer auf allen Meeren gefahren, habe viele Klippen umschifft – zuerst kam die Flucht aufs Meer, dann die  Rückkehr aufs Land. In meinem Leben suchte ich fortzu Zerstreuung, Abwechslung und scheute keine Risiken. Jetzt in meinem Alter möchte ich am liebsten sesshaft werden und Risiken meiden. Sonst könnte ich eines Tages im Kittchen enden  – Sohn rechtschaffener Eltern, der ich bin. Ich weiss, ich habe mein Scherflein auf krummen Wegen ergattert, mehr als genug. Darin gebe ich dir Recht. Ein schlechtes Gefühl aber packt mich beim Gedanken, dass wir einen ‚Beschatter’ haben könnten, der uns früher oder später entlarvt.“
 
Dabei liessen es die beiden Freunde vorderhand bewenden. Wenn Hussein mit Lina unterm Baumschatten im sommerlichen Klinikgarten sass, geschah es häufig, dass er in seiner Vorahnung nicht einen imaginären, sondern einen wirklichen Beschatter im Rücken fühlte, der sich ihm unaufhaltsam näherte. Wann wird er auftauchen und ihn zur Rede stellen? fragte er sich. Auch Piets Hinweis „Sohn rechtschaffener Eltern“ gab ihm zu denken. Wann würde er sich, als verlorener Sohn, wieder in seinem Elternhaus einfinden? Nun legt es die Geschichte allemal wieder an den Tag, das wusste er als Historiker, dass ein Gesinnungswandel nicht wie ein plötzliches Fieber ausbricht, sondern sich langsam einschleicht, von äusseren Umständen ausgelöst. Das war genau der Fall, nach seinem Sturz aufs harte Pflaster.
 
Wiederum verstrichen Wochen, während denen seine Pläne ausreiften. Eines Tages erschien der Beschatter unangemeldet in der Klinik. „Ein Herr möchte dich besuchen“, meldete ihm Lina, „soll ich ihn wegschicken?“ Als Araber war Hussein eine Dosis Fatalismus im Erbgut mitgegeben. „Schicke mir diesen Besucher ins Zimmer“, beantwortete er ihre Frage gleichmütig, „aber komme etwa in 10 Minuten wieder mit der Vorwand, dass es Zeit zur Therapie sei.“
 
„Setzen Sie sich“, bat er den Besucher, „und sagen sie mir, wer Sie sind, was Sie zu mir führt und was sie von mir wollen. Was immer es sein mag, schulde ich Ihnen keine Antwort und werde schlicht und einfach schweigen und Sie dann bitten, mein Zimmer zu verlassen.“
 
„Mir ist das mehr als recht“, antwortete sein Besucher und stellte sich „als Journalist ‚mit einem Anliegen in eigener Sache“ vor, „das Sie wohl als Zumutung ausschlagen werden. Sie sind der Mann, der beim Islam-Zentrum schwerverletzt – mitten in der Dienstagnacht – von einem Unbekannten aufgefunden wurde ... vermutlich in der gleichen Nacht, als wertvolle Manuskripte und Miniaturen spurlos aus der Ausstellung entwendet wurden. Eine Reihe von ähnlichen Entwendungen wurden wohl von der gleichen Täterschaft während mehreren Jahren verübt. Diese haben meine Neugier geschürt. Ich möchte darüber berichten, nicht als Journalist, sondern als Erzähler. Diese Täter wurden nie gefasst. Somit bleibt ihre Identität in meiner geplanten Erzählung verschwiegen. Die Begleitumstände und ganz besonders die Beweggründe der Täter möchte ich verstehen und darstellen  – dies ist mein Anliegen auf einen Nenner gebracht. Können Sie mir dabei, als Koautor weiterhelfen?“
 
In diesem Augenblick erschien Lina und sagte: „Mein Patient muss jetzt in die Therapie!“
 
„Darf ich Sie wieder besuchen? Vielleicht kommen wir über meinen Monolog hinweg miteinander ins Gespräch“, fragte der Bittsteller und folgte Husseins Rollstuhl durch den Korridor. „Ich würde mich dann telefonisch voranmelden.“
 
Dieses Intermezzo liess Hussein mit gemischten Gefühlen zurück. Er war einerseits erleichtert, dass es allem Anschein nach bei diesem Besucher nicht um einen Polizeispitzel handelte, anderseits wollte er sich in kein Gespräch mit diesem seltsamen Kauz einlassen – es sei denn, um ihm listig ein Märchen aufzutischen.
 
Märchen hin oder her, gilt es noch, in der letzten, 7. Episode, diese Geschichte hoffentlich zu einem märchenhaft guten Ende zu verhelfen.
 
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