Textatelier
BLOG vom: 19.11.2010

USA: Die Legende von Freiheit und Demokratie. Ein Disput

Autorin: Lislott Pfaff, Schriftstellerin, Liestal BL/CH
 
Zwischen einem jungen Kollegen (Geschichtsstudenten) und mir hat sich schon zweimal eine E-Mail-Kontroverse über die USA, ihre Kriegslust, ihre politischen Grundsätze usw. ergeben. Die eine Kontroverse habe ich früher in einem Blog publiziert, die andere möchte ich nachstehend der geneigten Leserschaft zur Kenntnis bringen.
 
Mein Kollege schrieb in seiner E-Mail:
 
1. Ich glaube nicht, dass die USA seit ihrer ersten Stunde eine kriegerische Nation waren. Die Feudal-Regime in Europa verfolgten Leute mit anderer Meinung, anderem Glauben, folterten und töteten. Amerika nahm diese Leute auf, bot Schutz und Freiheit im Denken. Die USA interessierten sich nicht gross für den Rest der Welt. Das änderte 1917, als sie an der Seite Englands und Frankreichs in den ersten Weltkrieg eintraten. Dieser Schritt veränderte die Weltordnung – weg von Europa, hin zu Amerika.
 
Meine Entgegnung darauf:
 
Du glaubst nicht, dass die USA seit jeher eine kriegerische Nation waren. Fangen wir bei den Ureinwohnern Amerikas an: Die amerikanischen Einwanderer haben die Indianer – 17 Millionen Opfer – ausgerottet, von denen ein kleiner Rest heute noch armselig in einigen Reservaten vegetieren darf. Wie willst Du diesen grössten Völkermord der Geschichte denn anders bezeichnen als mit „kriegerisch“?
 
Ferner ein Zitat von Karlheinz Deschner, deutscher Schriftsteller, Träger mehrerer Auszeichnungen, darunter des International Humanist Award: „Es waren dieselben Wallstreet-Kreise, die schon 1917 die bolschewistische Revolution finanziert hatten, die auch Hitler beisprangen, in der einzigen Absicht, seine Machtergreifung, seine Aufrüstung sowie den nächsten Weltkrieg zu ermöglichen und damit für sie selbst noch riesigere Gewinne als im letzten zu erwirtschaften.“ – Ich frage Dich: keine kriegerische Nation …?
 
Sicher wurden verfolgte Europäer in den USA aufgenommen; aber das haben auch andere Länder immer wieder getan, u. a. die Schweiz (ungarische Flüchtlinge während des Zweiten Weltkriegs, die Hugenotten aus Frankreich, die wegen ihres Glaubens verfolgt wurden, usw.). Sogar das unbedeutende Baselbiet hat dem berühmten Dichter Georg Herwegh Asyl gewährt, weil er in Deutschland politisch verfolgt wurde. Anderseits emigrierten auch viele zwielichtige Gestalten aus Europa nach den USA. Die wurden nicht wegen Missachtung ihrer Meinungsfreiheit verfolgt, sondern, weil sie Dreck am Stecken hatten, wie z. B. General Johann August Sutter, der in Burgdorf Konkurs gemacht hatte und deshalb Hals über Kopf nach Amerika flüchtete, dabei seine Frau und Kinder im Stich liess und sich in Neu-Helvetien unrechtmässig bereicherte. Solche „Helden“ gab es eben auch viele in der neuen Welt; ihre Nachkommen sind die Finanzhaie, die uns nun eine grosse Wirtschaftskrise beschert haben.
 
Ein weiteres Argument meines Kollegen:
 
2. Man muss unterscheiden zwischen 2 Amerikas: Dem der Politiker und dem der Einwohner. Ich habe viele Leute getroffen, die mit Bush, Irak etc. gar nicht einverstanden waren. Aber nach aussen (Europa etc.) wird eben nur Washington wahrgenommen. Das ist schade und wird dem breiten Meinungsspektrum nicht gerecht. Amerika hat mehr als nur eine Stimme.
 
Meine Entgegnung:
 
Ich bin mit Dir einverstanden, dass man zwischen einer kleinen herrschenden Schicht und der grossen Masse der übrigen Einwohner von Amerika unterscheiden muss. Der seinem eigenen Land gegenüber kritische Historiker Gore Vidal sagt ja selbst: „Dem amerikanischen Volk widerstrebt die Rolle des Weltpolizisten. Dieser furchtbare Ehrgeiz peinigt nur die Staatsführer. Der Amerikaner will sich nicht in kriegerische Auseinandersetzungen einmischen…“  - Leider hängt jedoch die Weltgeschichte nicht von diesen friedliebenden Amerikanern ab, sondern von den ehrgeizigen US-Staatsmännern und -Hochfinanciers, die nie genug Dollars sehen und deshalb geopolitisch kriminell handeln.
 
Schliesslich schreibt mein Kollege:
 
3. Für mich stehen die USA für 4 Werte: freedom, democracy, equality and justice. Wer sonst hat solche Grundlagen? Die Chinesen sicher nicht. Mit denen kommen nur Angst und Schrecken. Die Islam-Länder? Auch keine Alternative mit ihrer Scharia. Es sind nur die USA, die in unserer Welt eine freie Entwicklung ermöglichen.
 
Hoffen wir also, dass Amerika auch weiterhin dafür sorgt, dass wir alle ruhig schlafen können. Denn auf dem Schiff „USS New Jersey“ sagte uns der Guide: „You can sleep calmly, the US Navy protects the world.“ Das ist doch vertrauenerweckend, findest Du nicht?
 
Meine Entgegnung zu den 4 Werten der USA:
 
Justice:
Was die 4 nach Deiner Meinung nur von den USA vertretenen Werte angeht, so sei der für die Aufdeckung von CIA-Machenschaften bekannte Ständerat Dick Marty zitiert: Die Amerikaner hätten auch in Europa versucht, mit den Methoden eines Schurkenstaates zu operieren. Er könne bestätigen, dass die CIA in Europa illegal am Werk sei, er wisse das sehr detailliert. „Die US-Geheimdienste haben in Europa die Logistik und die Leute, um solche illegalen Aktionen durchzuführen.“ (BaZ, 14.01.2006)
 
Democracy:
In seinem sehr lesenswerten Buch Imperial America Reflections on the United States of Amnesia (Nation Books New York 2004) schreibt Gore Vidal: „Die ursprüngliche Republik wurde mit aller Sorgfalt und in aller Öffentlichkeit in den „Federalist Papers“ konzipiert: Wir würden keine Monarchie haben, und wir würden auch keine Demokratie haben. Und bis heute hatten wir keines von beiden. Seit 200 Jahren haben wir ein oligarchisches System, wo vermögende Männer ein gutes Leben führen und die anderen sich selbst überlassen bleiben. Wie Brooks Adams sagte, ist die einzige Frage unserer herrschenden Schicht die, ob sie die machtlose Mehrheit mit Zwang oder mit Bestechung regieren sollen. Die sogenannte Great Society wählte die Bestechung; heute ziehen unsere neokonservativen Mongoloiden autoritäre wenn nicht totalitäre Zwangsinstrumente vor. (Übersetzung: L. Pfaff).
 
Freedom und Equality:
In den USA gibt es über 30 Millionen Working Poor. Die Schriftstellerin Barbara Ehrenreich (sie publizierte mehrere Bücher, darunter Bestseller) arbeitete von 1998 bis 2000 als eine Art amerikanische „Wallraffin“ in verschiedenen Jobs der untersten Lohnklasse und schrieb darüber eine Reportage des Alltagshorrors der Working Poor in den USA ‒ sie nennt sie auch workaday drones (Alltagtagsdrohnen). Diese Menschen – es handelt sich um  fast 25 % der US-Arbeitskräfte – krampfen das ganze Jahr über „full time“ für 6–7 Dollar in der Stunde und können mit diesem Lohn gerade noch armselig vegetieren. So sehen „Freedom and Equality“ für Millionen von Amerikanern aus. (Quelle: Nickel and Dimed – on (Not) Getting By in America, von Barbara Ehrenreich, Metropolitan Books, 2001). Es ist anzunehmen, dass der Anteil der Working Poor in den USA heute, 10 Jahre nach Erscheinen des Buchs, eher höher ist als damals.
 
Zu Deiner Ansicht, dass nur die USA in unserer Welt eine freie Entwicklung ermöglichen, möchte ich fragen: Weshalb brauchen wir eigentlich einen „Big Brother“, der uns an der Hand nimmt und führt? Zudem einen „Big Brotherr“, der in seinem Land noch die Todesstrafe an Minderjährigen und Geistesgestörten vollstreckt? Immerhin gibt es diese Monstrosität in keinem Land Europas mehr. Sind wir Schweizer, wir Europäer wirklich nicht erwachsen und unabhängig genug, um uns aus eigenen Kräften frei zu entwickeln?
 
Du hast recht, weder die Chinesen noch die islamistischen Staaten können uns da Hilfe bieten (obwohl wir jetzt schon alteingesessene schweizerische Unternehmen und unsere schönen Landschaften an Ölscheiche und andere Superreiche verscherbeln). Anderseits ist China der grösste Gläubiger der USA, die sich wegen ihrer verantwortungslosen Schuldenwirtschaft von diesem Land in Abhängigkeit begeben haben. Und dieses Amerika soll dafür sorgen, dass wir ruhig schlafen können?
 
Oje, da schlafe ich lieber in einem schweizerischen Nachen als in einem Schiff der US-Navy und lasse mich von Tells Geschoss beschützen. Selbst wenn der Tell nur eine Legende ist, so steht er mir doch näher als die amerikanische Legende von Freiheit und Demokratie.
 
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