Textatelier
BLOG vom: 10.02.2012

Die Suche nach der Valentine und der Zen-Buddhismus

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Im Pendlerzug blickte er entweder aus dem Fenster oder las die Zeitung. Als der 14. Februar näher rückte, stieg, wie alle Jahre wieder, der Wunsch in ihm auf, endlich seiner Valentine zu begegnen, wiewohl es in seinem Leben nicht an Frauenbekanntschaften mangelte. Bei der 3. Haltestelle stieg ein Mädchen in den Zug ein und fand einen leeren Sitzplatz schräg ihm gegenüber. In einem überfüllten Zug beachten sich die Fahrgäste nicht. Diesmal jedoch wurde Hugo aufmerksam und beäugte das Mädchen mit zaghaften Seitenblicken. Sie trug bunte Kniesocken aus Wolle, ein ebenfalls bunt gewirktes Jackett und ein silbernes Anhängsel. Sie klappte die breiten Haltegriffe ihrer Schülertasche auseinander und entnahm ihr ein Taschenbuch. Der Titel „Einführung in Zen Buddhismus” reizte seine Neugier. Was wusste er über den Zen Buddhismus? Herzlich wenig. Erleuchtung durch Meditation war alles, was ihm einfiel. Welche Erleuchtung suchte sie in dieser Übersicht?
*
Derart abgelenkt, hatte Hugo seine Haltestelle verpasst. Wann wird sie den Zug verlassen? Es schickt sich längst nicht mehr, ein unbekanntes Mädchen auf der Strasse anzusprechen, es sei denn, man hätte einen triftigen Grund. 4 Haltestellen vor der Endstation stieg sie aus dem Bummelzug aus. Hugo folgte ihr.
 
Beim Bahnhofausgang sprach er sie keck mit der Frage an: „Welche Erleuchtung finden Sie im Zen Buddhismus?“
 
Sie hielt verwundert inne und wiederholte im Frageton das Wort „Erleuchtung?“ „Ja“, nickte Hugo beherzt.
 
Ihr sanftmütiger Blick streifte ihn, und sie antwortete ihm im Weitergehen: „Und welche Erleuchtung erwarten Sie von mir?“
 
„Vielleicht finde ich die Antwort über eine Tasse Kaffee im Lokal gegenüber“, schlug er kleinmütig vor.
 
„So gehen Sie Ihren Kaffee trinken und lassen sich erleuchten“, riet sie.
 
„Würden Sie mithalten ‒ ausnahmsweise?“
Merklich zögernd willigte sie ausnahmsweise ein.
 
Im Café gab er sofort zu, dass er nichts über den Zen-Buddhismus wisse, ausser dass er etwas mit Transzendentaler Meditation zu tun habe.
 
„Meditieren Sie?“ trieb ihn ihre Frage in die Enge.
 
„Manchmal meditiere ich meinen Träumen“, gestand Hugo. „Es kommt vor, dass ich daraus Erkenntnisse schöpfe, die mir nützlich sind.“
 
„Zen ist nicht auf Nutzen ausgerichtet“, wies sie ihn sanft zurecht. „Diese Philosophie weist zur mystischen Erfahrung jenseits von Ich und Du, unabhängig von Subjekt und Objekt und der Frage, was wahr oder falsch ist." Notieren Sie den Titel dieser Einführung.“ Sie reichte ihm das Taschenbuch „Sie finden es in jeder Buchhandlung.“
 
„Schade, dass Zen jenseits vom ‚Du und Ich’ ist und mich vom Du trennt, denn das ist genau das, was ich suche …“, murmelte Hugo kaum hörbar.
 
Das Mädchen blickte auf die Uhr und stand auf. „Ich muss etwas im Supermarkt einkaufen“, sagte sie.
„Ich heisse Hugo“, stellte er sich vor und reichte er ihr die Hand. „Und ich bin Renate.“
 
„Wenn Sie unangebunden sind wie ich, würde ich Sie gern wieder treffen.“
 
„Ich bin an keiner Leine angebunden und lasse mich nicht so einfach anbändeln“, antwortete sie schnippisch.
 
„Muss ich das als Abfuhr deuten? Hoffentlich nicht. Auf jeden Fall werde ich jeden Tag um diese Zeit in diesem Café auf Sie warten“, schickte er ihr noch nach, ehe sie im Supermarkt verschwand.
 
Am nächsten Tag kaufte er diese Zen-Einleitung und begann, sie auf der Rückfahrt im Zug zu lesen. Renate suchte an diesem Tag das Café nicht auf, auch am 2. nicht. Doch am 3. Tag kam sie. „Bin ich froh!“ sprang er von ihrem Erscheinen entzückt auf. Das Gespräch kam in Gang. Sie studiere Geschichte, und die Promotion stehe dieses Jahr an. Deswegen wollte sie etwas mehr über Zen wissen, denn diese buddhistische Lehre ist in ihren vielen Variationen eng mit der ostasiatischen Geschichte verknüpft, die sie in ihren Studien mitberücksichtigten müsse. „Und was tun Sie, wenn Sie nicht Mädchen nachjagen?“ fragte sie ihn plötzlich schroff.
 
„Bitte folgern Sie ja nicht, dass ich ein Schürzenjäger bin. Ein ‚coup de foudre’ hat mich erwischt“, gab Hugo verwirrt zu und fuhr stockend fort:. „Meine Studienzeit ist längst verflogen. Ich arbeite gegenwärtig als Medienberater in einer internationalen Praxis.“
 
„So war Zen bloss ein Vorwand“, schloss sie nach langer Pause. „Parbleu!“ lachte sie plötzlich hellauf, „Liebe auf den 1. Blick! Und das zum 2. Mal in meinem Leben … Was soll das bedeuten?“
 
„Weder Ratio noch Meditation können das Phänomen ‚Zufälligkeiten’ erklären. Vielleicht teilen Sie meine Überzeugung.“
 
Renate nickte: „Ja, so ist es, so weit Zufälle überhaupt erkennbar sind.“
„Es gibt noch etwas Anderes, das ich mit Ihnen teilen möchte,“ stimmte Hugo einen heiteren Ton an: „Eine chinesische Mahlzeit im ‚Gelben Schnabel’; das kann ihre ostasiatische Studien auch kulinarisch bereichern.“
 
Sein Vorschlag fand ihr Gehör. Eine halbe Stunde später sassen sie sich im chinesischen Restaurant gegenüber. „Das chinesische Neujahr hat im Januar begonnen unter dem Zeichen des Drachens“, bemerkte Hugo. „Es ist das Jahr der grossen Erwartungen und des Erfolgs. Ich wünsche Ihnen jetzt schon viel Erfolg im Studiumabschluss!“
 
„So gibt es schon ganz unerwartet eine 1. Verbindung zwischen ,Ich und Du’, von der Zen-Mystik losgelöst“, schmunzelte Renate.
 
„Das ist ganz genau die Erleuchtung, die mir während unseres 1. Gesprächs so verlockend vorschwebte.“
 
 (Der Erzähler will hier das sonderbare Gespräch des jungen Paars nicht weiter belauschen, nur kurz darauf hinweisen, dass Renate und Hugo in bester und zuversichtlicher Laune schieden – nachdem sie ein weiteres Treffen vereinbart hatten.)
*
Wichtig in einer aufkeimenden Beziehung sind Gemeinsamkeiten, die man nach und nach aufspürt, und ganz besonders auch, wie sie einander gegenseitig bereichernd ergänzen. Dank Renate begann er ihre musikalischen Favoriten zu schätzen, worunter Charles Aznavour und andere Chansonniers, argentinische Tangos, Flamenco. Sie ihrerseits gewann seinen klassischen Favoriten Geschmack ab. Renate wanderte, schwamm und radelte oft und gerne, und Hugo hielt mit, wiewohl er die Februarkälte am liebsten mied und auch das Wasser unter 20 ºC.
 
Ab Ende Februar müsse sie sich ernsthaft auf ihr Doktorat vorbereiten, gab sie ihm zu bedenken. Dann habe sie leider wenig Zeit für ihn übrig. Hugo sah das ein: „Aber einen Abstecher nach Paris dürfen wir uns nicht entgehen lassen.“ So buchte er die Reise für einen 3-tägigen Aufenthalt um die Monatsmitte in Paris und sicherte sich seinen geschäftlichen Urlaub. Sie bestand darauf, ihren Teil der Reise-und Hotelkosten tragen, mit dem Hinweis, so habe sie es immer gehalten. Auch auf getrennte Zimmer bestand sie: „Schliesslich kennen wir uns erst seit Kurzem. Wenn Du es ernst mit mir meinst, musst Du das akzeptieren.“ Und Ernst meinte es Hugo. Das alles scheint ein altmodisches und weitgehend überholtes Benehmen zwischen 2 jungen Leuten, die es heute ganz anders treiben, ganz besonders, wenn man bedenkt, dass sie 27 Jahre alt ist, und Hugo 32. Vielleicht habe sie eine schmerzliche Liebeserfahrung hinter sich, vermutete Hugo.
 
Beide kannten Paris gut, und Erinnerungen von früheren Besuchen lebten auf und wurden aufgefrischt – kulinarische unter vielen anderen, worunter, dank Renate, auch die geschichtlichen Haltepunkte der Stadt. Er selbst schwärmte von der Literatur, ein Thema, das ihn immer wieder packte und er mit ihr teilte. So klopften sie die Bouquinistes am Seineufer ab.
 
Diesmal ging sie klassisch-elegant gekleidet, damit er wisse, dass sie auch eine modebewusste Dame sein konnte. Ab und zu gab es Augenblicke, wo sie tief versunken innehielt, wohl von Erinnerungen anderer Art angerempelt. Aber rasch sammelte sie sich und war nachher sogar noch fröhlicher als zuvor.
 
Der 14. Februar wurde zum Glanzpunkt ihres Pariser Aufenthalts. Hugo hatte sich gut darauf vorbereitet und in einem für Touristen versteckten, doch von kulinarische Kennern hoch geschätzten Restaurant einen Tisch gebucht. Gleich beim Eingang wurde Renate eine rote Rose überreicht, deren Röte sich auf ihre Wangen übertrug. Da überkam sie wieder eine Erinnerung, die schon zuvor ihr Schweigen verursacht hatte. „Du hast keine Ahnung, wie froh ich bin, mit Dir hier zu sein!“ sagte Renate spontan und wischte sich mit der Serviette eine Freudenträne aus den Augen. „Einmal zuvor habe ich in diesem Lokal gesessen und habe geweint, aber das ist lange her und absolut belanglos geworden.“
 
Der Kellner brachte 2 Kir Royal. Als er sich zuvor im Hotel festlich gekleidete hatte, trug er eine geschenkverpackte Schachtel in einer Plastiktasche mit sich. Aber die konnte warten. Der Vorspeise, mit einer kleinen Flasche Weisswein kredenzt, folgte die Hauptmahlzeit, von einem erlesenen Rotwein begleitet. Nach dem Dessert kam der stark gebraute Kaffee, für ihn mit einem Gläschen Cognac bereichert. Zum Glück dauerte die Mahlzeit 3 Stunden, und so konnte sich Renate vom Wein etwas erholen. Auch der Kaffee wirkte. Ein Geiger machte die Tischrunde und spielte mit vielen Glissandi Zigeunermusik.
 
„Ich muss eine ernste Frage an Dich richten“, wandte er sich an Renate und legte ihre Rose auf sein Geschenk. „Willst Du meine Valentine sein?“, platzte er heraus und reichte ihr das Geschenk. Renate war überwältigt, und in einer seligen Umarmung hauchte sie ihm ihr Ja ins Ohr. Sorgsam packte sie sein Geschenk aus: Es war ein reich verzierter Satsuma-Teekrug mit „Drachenmotif“ aus der Meiji Zeit, dessen Schweif den Henkel formt, und der langhalsige Kopfteil zum Teeausschank dient. In dieser Valentinsnacht teilten sie das Zimmer im Hotel.
 
Es ist doch schön, dass es in dieser Welt noch so glückselige Augenblicke gibt!
 
 
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