Textatelier
BLOG vom: 20.03.2012

Fremde Länder und die Sicht darauf: War ich, wo ich war?

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein, zurzeit in Bangalore, Indien
 
Sie reisen in ein fremdes Land? Oder besser nicht, denn was haben Sie nicht schon alles in Magazinen, Zeitungen, im Internet gelesen, in den Medien gesehen: Dort gibt es Kinderarbeit. Es gibt unüberwindliche Kastensysteme; die Menschen unterer Kasten werden ausgebeutet. Dort schlafen die Menschen auf der Strasse. Manchmal sterben sie auch dort. Es gibt Krankheiten aller Art: Malaria, Insektenstiche, Cholera. Es ist alles so unsauber, und es drohen Durchfallerkrankungen, Fieber. Und das Gesundheitssystem ist schlecht. Es stinkt überall nach Abwasser, Urin und Kot. Es ist immer laut – der dichte Strassenverkehr mit Autos, Motorrädern und Rollern. Die Menschen können nicht lesen und schreiben. Alle sind korrupt. Ausländer werden nur abgezockt. Es gibt Religionsfanatiker, die Sie entführen, kidnappen oder umbringen können. Igitt. Da kann man doch nicht hinfahren!
 
Haben Sie es gemerkt? Schlechte Nachrichten sind Nachrichten, die gern publiziert und gelesen werden. Alles ist wahr, alles ist schon passiert, alles kann einem zustossen. Darüber kann man reden! Und – bei uns ist alles besser, auf jeden Fall viel besser als dort! Die Welt ist ganz erbärmlich schlecht, nur bei uns ist es natürlich anders ...
 
Gibt es auch etwas Positives zu berichten? Will das überhaupt jemand lesen? Ich bin überzeugt, es würde gelesen werden, und es würde den Blick auf das fremde Land relativieren.
 
Etwas Positives: Die Menschen sind freundlich, hilfsbereit, zuvorkommend, warmherzig, liebenswert, umgänglich, interessiert, offen für Gespräche. Ihr Umgang mit Kindern ist bewundernswert geduldig und verständnisvoll. Das Essen ist lecker, vielseitig, schmackhaft. Die Getränke vielseitig und gesund. Es gibt viel Neues zu entdecken, andere Religionen und ihre Riten, unbekannte Früchte, sehenswerte Bauwerke, herrliche Landschaften, andere Umgangsformen, für uns neue, fremde Gebräuche.
 
Trotz Globalisierung, einer Welt voller Möglichkeiten, die Menschen aller Nationen sich näher kommen lassen könnten, leben wir alle mit den Urängsten unserer fernen Vorfahren, der Angst vor dem Fremden, dem uns Unbekannten, das uns unsicher macht, Vorurteile schürt, uns abschotten lässt. Und unsere Befürchtungen werden tagtäglich in den Medien bestätigt. Wie heisst doch die Redensart: „Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um!“ ‒ Also: Es reicht doch, wenn wir uns über die Medien informieren, im Internet surfen, einfach einmal mit Leuten mailen oder chatten. Dann brauchen wir auch nicht hinzufahren und uns den vielfältigen Gefahren auszusetzen.
 
Oder: Wir fahren hin, organisiert durch ein Reiseunternehmen, abgeschottet von der Bevölkerung, nur mit Kontakt zum Hotelpersonal, das uns verwöhnt, hauptsächlich am Strand und mit Menschen der eigenen Nation zusammen, mit Ausflügen zu Sehenswürdigkeiten in speziellen Bussen. Danach wird dann erzählt: Ich war in Thailand, Burma, Nepal, Südamerika oder sonst wo. Was habe ich alles gesehen!
 
War ich wirklich dort?
 
Habe ich erlebt, wie die Menschen dort leben, wie sie um ihren Lebensunterhalt ringen, in ihrer Stadt, in ihrem Dorf mit ihrer Familie und ihren sozialen Beziehungen aufwachsen, leben und sterben?
 
Wenn wir uns Musik nur über die Medien anhören, über Radio, Fernsehen, Speichermedien usw., und nie in einen Konzertsaal gehen, wissen wir nicht, wie es sich anhört, wenn man im Saal sitzt, auf der Strasse einem Musikanten zuhört, die Atmosphäre in der Musikhalle oder im Theater erlebt und dass das nicht dasselbe wie ein Konsum aus zweiter Hand ist. Es ist erlebnisreicher.
 
Wenn wir fremde Länder nur durch die Linse des Kameramanns und durch das Auge des Filmemachers sehen, wissen wir nicht, wie es dort wirklich ist, was es heisst, dort zu erleben, wie die Menschen sind. Wir als Zuschauer sind dieser Sicht ausgeliefert. Es ist uns gar nicht bewusst, dass die Filmemacher ihre eigene Sicht auf die Dinge in den Film projizieren, uns Zuschauer ihre Sicht quasi aufzwingen. Denn – wir bilden daraus unsere Meinung. Viele unserer Ansichten und Meinungen sind durch Medien geprägt. Gewiss, werden Sie sagen, wir können nicht überall sein, alles hören, sehen und lesen, wir müssen uns zwangsläufig beschränken. Stimmt, nur wenn es dabei bleibt, wissen wir immer noch nichts, Wissen und Dabeisein bedeuten mehr. Nicht alles! Wir können nämlich nur beobachten, als Aussenstehender sehen, mit den Fremden sprechen, und wir sehen dennoch alles nur durch unsere Brille. „Unsere Brille“ – das sind unser gelebtes Leben, unsere Sozialisation, unsere Bildung, unsere Erfahrungen.
 
„Jetzt bin ich schon so viele Jahre in Indien und weiss immer noch nicht, wie die Inder ticken.“ Richtig, aber näher gekommen ist er, mehr Verständnis hat er bestimmt erreicht, Vorurteile wurden abgebaut, Freunde gewonnen. Vielleicht hat er auch „sich selbst gefunden“, gelernt, sich selbst besser zu verstehen.
 
Und noch etwas: Wir können mit unseren Vorstellungen vom Arbeiten, von Hygiene, vom Essen und Trinken, vom Umgang mit Kindern, von der Verkehrsregelung, vom Strassen- und Häuserbau, vom sogenannten „lebenswerten Leben“ in fremde Länder gehen und meinen, die Bevölkerung werde endlich schon einsehen, dass sich vieles ändern müsse, wenn sich ihr Land dem Standard der industrialisierten Länder nähern oder diesen erreichen will. Welche Überheblichkeit wäre das! Welches Recht hätten wir zu dieser Annahme?
 
Ich bin Gast in diesem mir fremden Land. Zuerst einmal habe ich das, was ich hier sehe und feststelle, einfach nur wahrzunehmen und mich darin zurechtzufinden, mehr nicht. Dem Gastland zu zeigen, wie es angeblich besser laufen würde, steht mir nicht zu, dazu weiss ich zu wenig. Die Strukturen haben sich, wie überall, so entwickelt, sei es aus der Mentalität der Bewohner heraus, sei es, weil die Politiker es so gewollt haben, sei es, weil einfach das Geld für eine andere Entwicklung fehlt. Ich bin davon überzeugt, dass die Bewohner dieses fremden Landes schon wissen, was sie tun und was sie tun können.
 
Ich kann mir Informationen darüber beschaffen, dass es auch in diesem Land Bürger gibt, die sich für eine gute Sache einsetzen, die Missstände sehen und versuchen, diese zu überwinden, die eine „NGO“ (Nichtregierungsorganisation, Hilfsorganisation) gründen und nicht etwa gewinnorientierte Organisationen. In diesen Zusammenschlüssen leisten sie unglaublich viele und gute, meist gering bezahlte Arbeiten, um Missstände im Land zu bekämpfen. Oft wollen diese Menschen keine Almosen aus dem Ausland; sie versuchen sich über die eigene Bevölkerung zu finanzieren und oft funktioniert das auch.
 
Ein Beispiel: Es gibt viele internationale Hilfsorganisationen, die Kinder im Ausland unterstützen. Sie rufen dazu auf, man solle bei ihnen eine Patenschaft für ein Kind in einem Heim übernehmen, dieses Kind finanziell unterstützen, ihm Geschenke machen und es vielleicht gelegentlich auch besuchen, um den „Fortschritt“ des Kinds zu sehen, wird erklärt. Das investierte Geld solle einen sichtbaren und bleibenden Nutzen zeigen.
 
Der Leiter eines Blindenheims sagte mir, er würde das nicht unterstützen, denn was entsteht, wenn das ein Kind solche Paten hat und das andere nicht? Es würde passieren, was überall geschieht: Es würden Neid und Missgunst entstehen. Das geförderte und somit bevorzugte Kind könnte sogar aus der Spielgruppe ausgeschlossen werden, weil es ja „was Besseres“ sei und nicht mehr dazugehöre. Darum lehne er dieses System ab.
 
Würde ich mir jetzt herausnehmen, diesen Leiter herzlos zu nennen und ihn bezichtigen, zu wenig für seine Schutzbefohlenen zu tun, wäre ich überheblich und besserwisserisch. Seine Argumente sind wohlüberlegt und sinnvoll.
 
Solche Gedankengänge werden Sie aber nur auslösen, wenn Sie das Land bereisen und mit den Menschen sprechen, ihre Gedanken, Vorstellungen und Wünsche hören und mit ihnen leben. Einfach nur da zu sein, die Gebräuche des Landes mitzumachen, dort zu essen und zu trinken, wo die Einheimischen das tun, sich neben sie zu stellen oder zu sitzen und mit den Fingern zu essen, wenn dies üblich ist, seine Kleidung der sittlichen Auffassung anzupassen und nicht zu meinen, anderen in dieser Hinsicht „ein Vorbild“ sein zu müssen, bringt sie näher an die Menschen und an deren Leben. Sie werden feststellen, dass „lebenswertes Leben“ ein dehnbarer Begriff ist, der überall anders gesehen wird und dass die Art, zu leben, wie es das Gastland tut, eine gute Art ist. Dann haben Sie schon viel erreicht und Ihren Horizont erweitert. Was Reisen sein soll: Neues erleben, sein Weltbild nötigenfalls korrigieren und Freunde finden.
 
Hinweis auf einen Text über den Hinduismus von Richard Gerd Bernardy
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