Textatelier
BLOG vom: 17.08.2012

Savoyen 7: Albertville mit Conflans – ein Herz, zwei Seelen

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Nachdem man den Südzipfel des Annecysees verlassen hat und in einem leichten Bogen nach Osten fährt, wechselt man zwischen Faverges und Ugine von Hochsavoyen (Haut-Savoie) nach Savoyen (Savoie). Savoyen hiess ab 1160 die Grafschaft bzw. ab 1416 das Herzogtum des im 11. Jahrhundert entstandenen Hauses Savoyen. Der Name wurde beibehalten, auch nachdem Frankreich als seinen Beitrag an die italienische Einigung das ehemalige Savoyen abgegeben hatte. Es teilte das Gebiet in die 2 Departemente Savoyen und Hochsavoyen auf.
 
Wählt man die Südroute, führt die Strasse von Annecy nach Chambéry via Albertville. Diesem Städtchen habe ich bei der Reiseplanung keine grosse Bedeutung beigemessen. Umso grösser war die Überraschung, als wir diesen Ort im Talkessel, wo der Fluss Arly in die Isère mündet, vor uns hatten. Der Name Albertville ist vor allem in Sportkreisen bekannt, wurden hier unter Einbezug der weiteren Umgebung doch 1992 nach Chamonix (1924) und Grenoble (1968) zum drittenmal Olympische Winterspiele in Frankreich ausgetragen. Viele Wintersportorte befinden sich im Beaufortain-Massiv zwischen dem Val d’Arly, dem Val Montjoie und der Tarentaise, eine Mittelgebirgslandschaft in den Zentralalpen. Und Les Trois Vallées im Süden von Albertville gelten als das grösste Skigebiet der Welt.
 
L’Hôpital
Das Skifahren aber war bei unserem sonntäglichen Besuch vom 29.07.2012 kein Thema. Bei der Marmorbrücke über die Arly, die zum Ortsteil Conflans führt, ist ein grosser Parkplatz. Nebenan beginnt gleich die untere Altstadt, L’Hôpital genannt. Man betritt eine Strassenschlucht, deren Seitenwände aus langen Reihen von zusammengebauten, gleichförmigen Häusern bestehen. Zwischen den Dachkänneln, die den Übergang von einem Gebäude zum anderen markieren, sind schlanke, das heisst hohe und schmale Fenster mit Sprossen, die einen Sonnen- und Sichtschutz gewährleisten und den Wohnbauten eine Portion Noblesse verleihen. Bei aller Regelmässigkeit lockern sie das Bild auf. Laternen und Kübelpflanzen beleben diese Altstadt. Viele Geschäfte, vor allem Bäckereien und Metzgereien, befriedigen auch an Sonntagen die lukullischen Bedürfnisse der Savoyer. In Backöfen auf dem Trottoir drehen sich Pouletspiesse. Die Idylle beleben Hunderte von blauen und gelben Wimpeln, die an Schnüren im Zickzack über der Gasse aufgespannt sind. Die Altstadtgasse steuert geradlinig auf die Kirche zu, welche das Bild im Hintergrund abrundet. Sie besitzt einen Spitzturm, der von 2 runden Seitentürmen flankiert ist. Ecktürme sind eine savoyardische Architekturspezialität, die gefällt.
 
Biegt man vor der Kirche rechtwinklig nach links ab, befindet man sich in einer weiteren, ähnlichen, breiteren Altstadtstrasse, an deren Rand das Autoblech aufgereiht ist. Und wiederum links davon klotzt der moderne Bau des Hôtel de Ville, das der griechischen Tempelarchitektur nachempfunden ist. Doch ist dies nicht allein ein Rathaus, sondern „Il Duomo“, wie der Komplex heisst: der Dom (italienisch). Er beherbergt 3 Kulturstätten: Theatersaal, Mediathek sowie Kino mit Panoramaleinwand und verinnerlicht auf der anderen Seite die Place de l’Europe . Das gigantische Kulturzentrum, das einer Millionenstadt würdig wäre, entstand nach Plänen des Architekten Jean-Jacques Moisseau.
 
Im U-förmigen Innenhof zwischen den helllilafarbenen Wänden sind gut frequentierte Restaurants und eine Brasserie für Bierliebhaber; an Kübelpflanzenschmuck wurde nicht gespart. Eine gewaltige, weibliche Bronzestatue lässt Friedenstauben steigen. Sie wurde zu Ehren der Olympischen Winterspiele 1992 vom Skulpteur Pierre Margara geschaffen, ein grossartiges Monument voller Eleganz, das sich makellos in die Anlage einfügt, zu der Überdimensionen gehören. Solche Plätze im Herzen der Städte, denen man überall in Frankreich begegnet, tragen viel zum Gemeinschaftsleben bei, integrieren Einheimische und Gäste. Voraussetzung für diese innerstädtischen Plätze: ein ausreichendes Platzangebot.
 
Albertville besteht aus 2 Flecken, von denen L’Hôpital der grössere und bedeutendere ist (knapp 20 000 Einwohner, die vor allem in der Metall- und Holzindustrie, Transportunternehmen und natürlich im Fremdenverkehr Arbeit finden). Berühmter aber ist das höher gelegene Dörfchen Conflans – die beiden Ortsteile wurden 1845 vom König Karl Albert zu einer einzigen Stadt vereinigt.
 
Conflans
Das romantische Conflans, 1285 zur selbständigen Stadt erhoben, ist ein quicklebendiges, mittelalterliches Schmuckstück, das manch eine kriegerische Auseinandersetzung über sich ergehen lassen musste. Die letzte grosse Schlacht fand hier unter dem Kommando des französischen Marschalls Thomas Robert Bugeaud de la Piconnerie gegen die österreichischen Angreifer statt. Immerhin blieb die kleine Stadtanlage so weit unbeschädigt, dass sie als besterhaltene mittelalterliche Stätte von Savoyen gilt.
 
Man muss von der Arly her nur einen kurzen Aufstieg über eine breite, asphaltierte Strasse (Montée Adolphe-Hugues) zu Fuss oder im fahrbaren Untersatz hinter sich bringen, um das Städtchen durch die Porte Savoie mit dem Stadtwappen über dem Spitzbogen zu betreten. Man folgt dann der Hauptstrasse (Rue Gabriel Pérouse), über der viel schmiedeeiserner Schmuck die Hausfassaden im 1. Stockwerk ziert. In etwas erhöhter Position und damit näher beim Himmel ist die Kirche Saint-Grat aus dem 18. Jahrhundert. Das Sehenswerteste daran ist die überdimensionierte barocke Holzkanzel, die Jacques Clairant 1718 geschnitzt hat, ein Prunkstück. Wenn das Volk von hier aus abgekanzelt wurde, dürfte das seine Wirkung nicht verfehlt haben.
 
Selbst dieser Ort hat seinen Platz: la Grande-Place, den kleine Geschäfte umgeben. In der kleinen Boutique „Toutes Couleurs“ bieten verschiedene Kunstschaffende ihre Werke an. Eva sicherte sich halbkugelige Anhänger als Halsschmuck aus Holz mit Zinnfüllungen in den Spalten und einen Mohair-Seiden-Schal als Mitbringsel für die Daheimgebliebenen. Womit auch dieses Problem gelöst war.
 
Am Rande des Platzes steht das wuchtige, schwerfällige „Maison Rouge“ aus roten Ziegelsteinen, von denen offenbar niemand weiss, wie die aus Lehm gebrannten Steine hierher kamen und weshalb. Ziegelbauten findet man in dieser Gegend sonst nicht. Ganz in der Nähe ist der „Jardin public de la Tour Sarrazine“ mit schattigen Plätzen unter Bäumen und unter der Weinreben-Pergola, die den Platz an bester Aussichtslage einrahmt. Von hier sind Albertville mit den zahlreichen repräsentativen Bauwerken im Talgrund und die umgebende Hügellandschaft bestens zu überblicken.
 
In jenes bewirtschaftete Tal mit dem ausufernden Agglomerationsbrei mussten wir absteigen, um die rund 50 km lange Weiterreise der Isère entlang nach Chambéry anzutreten. Es lag mir daran, abzuklären, ob es stimmt, dass in Chambéry der Jurahügelzug beginnt.
 
Über meine im Touristenstil gewonnenen Forschungsergebnisse wird im Bericht „Savoyen 8“ eingegangen.
 
Quelle
Haar, Claus: „Savoyen“, Walter-Verlag, Olten und Freiburg im Breisgau 1985.
 
Hinweis auf die vorangegangenen Savoyen-Blogs
14.08.2012: Savoyen 6: Annecy und andere Haupt- und Nebensachen
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