Textatelier
BLOG vom: 17.08.2012

Giftpflanzen Attich, Herbstzeitlose: verlockend, gefährlich

Autor: Heinz Scholz, Wissenschaftspublizist, Schopfheim D
 
Während unserer Wanderung durch die Teufelsschlucht im Schweizer Jura am 08.08.2012 entdeckte ich auf einem Nebenweg eine mir unbekannte Pflanze. Es war keine einzelne, sondern eine Ansammlung von vielen Gewächsen auf einem vielleicht 10 m langen Areal zu sehen. Die schönen, rötlich-weissen Blüten dufteten sehr angenehm. Die kleinen Blüten waren in Trugdolden angeordnet und die Blätter gefiedert. Kaum zu Hause, forschte ich in diversen Pflanzen- und Kräuterbüchern nach. Aber in keinem Werk war diese aufzufinden.
 
Ich sandte ein Foto von der Pflanze an unseren Pflanzenexperten Heinrich Abraham aus Leifers (Südtirol) und bat um eine Identifizierung. Schon am 10.08.2012 kam eine E-Mail mit folgenden Hinweisen: „Die Blüte auf dem Bild ist der Attich (Sambucus ebulus). Die Pflanze gehört zu den Giftpflanzen. Man findet den Attich eher selten, bei uns ist er schon lange verblüht und trägt schon die schwarzen Beeren.“
 
Mir war zuvor nicht die Idee gekommen, dass es sich um eine Giftpflanze handeln könnte. Ich sah gleich in einem schlauen Buch mit dem Titel „Giftpflanzen, Pflanzengifte“ nach und fand dann etliche Infos über diese Pflanze.
 
Der Attich (Zwergholunder) gehört zur Familie der Geissblattgewächse. Er blüht im Juni und Juli. Im August und September zeigen sich die schwarzen Früchte. Die ganze Pflanze ist giftig, besonders die Samen der schwarzen Früchte. In diesen befinden sich giftige Bitterstoffe (Ebulosid, Isoswerosid), ferner Kaffeesäure, p-Cumarsäure und Spuren eines Blausäureglykosids.
 
Vergiftungserscheinungen: Übelkeit, Erbrechen, Kratzen im Hals, Schwindelgefühl, Kopfschmerzen, Ohrensausen, Pupillenerweiterung, blutiger Durchfall, hellrote Lippen, Sehstörungen, Herzbeschwerden. Es sind auch tödliche Vergiftungen bekannt.
 
Die erste Herbstzeitlose
Kaum zu glauben: Auf einer Wiese im oberen Bereich der Teufelsschlucht entdeckten wir die erste Herbstzeitlose (Colchicum autumnale). Allgemeines Erstaunen und Bedauern, zumal wir ja noch im Sommer unsere Wanderung machten, und ich dachte: Sollte in diesem Jahr der Herbst früher als sonst in die Lande ziehen?
 
Oft zeigen sich die lilarosa-farbenen Blüten erst im September oder Oktober. Giftig sind alle Pflanzenteile, besonders die Knolle und der Samen. Es kamen nicht nur Vergiftungen bei Kindern vor, sondern auch bei Tieren. Die Tiere frassen im Sommer Blätter und im Herbst Blüten. Pferde und Schweine sind wesentlich empfindlicher als Rinder und Schafe.
 
Die Herbstzeitlose wurde übrigens 2010 zur Giftpflanze des Jahres gekürt.
 
Hauptwirkstoff Colchicin
Hauptwirkstoff ist das Colchicin. Daneben sind 20 weitere Alkaloide in der Pflanze enthalten. Das Colchicin ist ein Zellgift. Nach Einnahme zeigen sich Übelkeit, Benommenheit, Schock, heftiger Harndrang, kolikartige Magenschmerzen, Krämpfe, Lähmungen, Herzrhythmusstörungen, blutiger Durchfall, Blaufärbung der Lippen, rascher Puls, Atemlähmung.
 
Bei einem 9-jährigen Kind, das 3-4 Samen ass, zeigten sich danach Übelkeit und Erbrechen. Nach dem Aussaugen einer Blüte entstand bei einem 10-jährigen Kind Kollaps, Tachykardie, Schweissausbruch und Übelkeit. Die ersten Symptome machen sich erst nach 2 bis 6 Stunden bemerkbar.
 
Das Colchicin ist in geringen Dosierungen eine Arznei bei Gicht. In der Homöopathie (D2-D4) kommt die Substanz bei Gicht und in D2-D6 bei akuter Herzentzündung und Darmtenesmus (Tenesmus = anhaltender schmerzhafter spastischer Stuhl; Schliessmuskelkrampf) zur Anwendung.
 
Und noch eine Verwendung: Colchicin wird zum Vergrössern von Zuchtpflanzen, z. B. bei Erdbeeren, eingesetzt. Nun brauche ich mich nicht mehr zu wundern, wenn immer grössere Erdbeeren angeboten werden. Die sind natürlich geschmacklich nicht so intensiv wie die kleineren Beeren.
 
Giftigkeit weiterer Pflanzen
In Mitteleuropa gibt es etwa 50 Pflanzenfamilien, die Giftstoffe enthalten. Man unterscheidet (in der Aufstellung sind Laub- und Nadelhölzer und krautige Pflanzen, also keine Pilze):
 
Sehr stark wirkende Giftpflanzen: Diese lösen schon in geringen Mengen unter Umständen lebensgefährliche Zustände aus. Zu dieser Gruppe gehören beispielsweise Bilsenkraut, Eisenhut, Giftsumach, Herbstzeitlose, Kartoffel (Beeren), Lebensbaum, Sadebaum, Schierling, Seidelbast, Stechapfel, Tabak (die ganze Pflanze ist giftig), Tollkirsche.
 
Stark wirkende Giftpflanzen: Sie können ebenfalls schwere Vergiftungserscheinungen auslösen. Beispiele sind Aronstab, bittersüsser Nachtschatten, Bocksdorn, Christrose (= Nieswurz), Eibe, Fingerhut, Goldregen, Oleander, Pfaffenhütchen, Rhododendron-Arten, Schlangenkraut, Wunderbaum (Rhicinus cmmunis; hier ist der Samen giftig!), Zaunrübe.
 
Giftige Pflanzen: Zu dieser Gruppe gehören die meisten Giftpflanzen. Sie sind, in geringen Mengen genossen, ungiftig oder schwach wirksam. Verbreitete Vertreter dieser Gruppe sind Akazie, Berglorbeer, Besenginster, Buchsbaum, Buschwindröschen, Efeu, Essigbaum, Feuerbohne (rohe Samen und Hülsen), Ginster, Glyzinie, Hahnenfuss-Arten, Heckenkirsche, Kirschlorbeer, Küchenschelle, Maiglöckchen, Schneeball, Schneebeere.
 
Die Pflanzeninhaltsstoffe, die zu den unterschiedlichsten Vergiftungssymptomen führen, gehören nicht nur einer chemischen Stoffgruppe an. Es kann sich dabei z. B. um bestimmte ätherische Öle, Alkaloide, giftige Aminosäuren und ihre Verbindungen, blausäurehaltige Zuckerverbindungen, Digitaloide, Furanocumarine, Senfölglykoside, Saponine und Terpene handeln. Dabei bestimmen verschiedene Faktoren (Standort, Umweltbedingungen, Alter und Reifezustand eines Pflanzenorgans) mit, wie stark die Giftwirkung ist, denn während des Reifeprozesses von Früchten nehmen die Giftstoffe zu und in Wurzeln von mehrjährigen Pflanzen ist die Giftkonzentration im Frühjahr und Winter besonders hoch.
 
Für Kinder eine gefährliche Verlockung
Oft sind Samen, Beeren und Blüten für Kinder eine gefährliche Verlockung. Sie werden zum Beispiel gerne zum spielerischen „Kochen“ verwendet und im Extremfall in grösseren Mengen verzehrt. Auch stecken Kleinkinder vieles in den Mund. Selbst schlecht schmeckende Dinge werden nicht verabscheut, da der Geschmackssinn noch nicht so gut ausgeprägt ist wie bei älteren Kindern.
 
Bei Erwachsenen kommen Vergiftungen mit Pflanzen seltener vor. Wie Prof. Dieter Frohne und Dr. Hans Jürgen Pfänder, Kiel, berichteten, vergiften sich Erwachsene und Jugendliche im Rahmen alternativer Ernährungsversuche, durch Selbstmedikation mit Heilpflanzen, durch Missbrauch von „Herbal Teas“ und infolge von Verwechslungen. So wurden Bärlauchblätter mit denjenigen der Herbstzeitlose verwechselt. Im Frühjahr sind nämlich die Blätter und keine Blüten der Herbstzeitlose zu sehen. Ich sah die Blätter der Herbstzeitlose in der Nähe oder sogar auf den Bärlaucharealen. Man kann die Blätter jedoch sehr gut unterscheiden. Nur die Bärlauchblätter riechen und schmecken nach Knoblauch.
 
Ein Kräuterwibli bereitete sich einen Tee für ihre Bronchitis zu. Beim Sammeln von Borretschblättern kamen auch einige Blätter des Fingerhuts in die Mischung. Diesen Vergiftungsfall habe ich in meinem Blog vom 19.02.2010 („Hausmittel II: Sanfte Kräutertees gegen viele Beschwerden“) geschildert.
 
Verläufe mit schweren Symptomen wurden bei Personen gesehen, die Pflanzen im Rahmen eines Selbstmordversuchs oder aus Missbrauch eingenommen hatten.
 
Bei Erwachsenen kommen oft Vergiftungen mit Pilzen vor. Aus Unkenntnis heraus werden auch giftige Pilze gesammelt und dann verzehrt. Unter den Pilzkennern unserer Wandergruppe hat der folgende Spruch die Runde gemacht: „Man kann alle Pilze essen, manche aber nur einmal!“
 
Was tun bei Vergiftungen?
Wegen der Unterschiedlichkeit der Giftarten und Giftwirkungen bei Pflanzen ist es nicht immer möglich, eine pauschale Vorgehensweise für alle möglichen Vergiftungen anzugeben. Dr. med. Wolfgang Jonitz von der Vergiftungsinformationszentrale Freiburg i. Br. empfahl als Erstmassnahme eine reichliche Flüssigkeitszufuhr. Geeignete Getränke sind lauwarmes Wasser, Saft oder Tee. Auf keinen Fall Salzwasser oder Milch geben! In vielen Fällen kann auf das Auslösen von Erbrechen verzichtet werden. Auch die Gabe von Medizinischer Kohle muss nicht in jedem Fall erfolgen (immer den Therapeuten fragen!).
 
Neigt das Kind zum Erbrechen, legen Sie es in Bauchlage über Ihre Oberschenkel, so dass der Kopf etwas nach unten hängt. Durch diese Massnahme fliesst das Erbrochene ab und gelangt nicht in die Luftröhre.
 
Empfehlenswerte Vorgehensweise
O Reichliches Trinken von Flüssigkeit (Wasser, Tee, Saft).
 
O Anruf beim Giftinformationszentrum. Wenn Sie die Nummer nicht wissen, den Kinderarzt benachrichtigen.
 
O Ruhe bewahren und die gestellten Fragen konzentriert beantworten. Die Fachleute werden Sie fragen, was Ihr Kind gegessen hat. Beschreiben Sie das Aussehen der Pflanze, der Frucht oder eines anderen Pflanzenteils (Grösse, Farbe, Beschaffenheit, Zahl der Kerne in der Frucht, Anordnung der Früchte an der Pflanze, Grösse, Form und Anordnung der Blätter).
 
Weitere Fragen: Wo wuchs die Pflanze? Wie viel Zeit ist bereits seit der Einnahme vergangen? Zeigt das Kind bereits Symptome? Hat es bereits erbrochen? Wie alt ist das Kind?
 
O Fragen Sie nach den Erste-Hilfe-Massnahmen. Fragen Sie auch, ob der Rettungsdienst benachrichtigt werden muss.
 
O Keine Medikamente verabreichen.
 
O Wenn Ihr Kind in die Klinik muss, Erbrochenes und Teile der fraglichen Pflanze mitbringen.
 
Wie W. Jonitz mitteilte, wissen viele Anrufer bereits den Namen der entsprechenden Pflanze. Dem Anrufer unbekannte Pflanzen können nicht immer telefonisch bestimmt werden. Deshalb sollte eine 2. Person einen Gärtner oder Apotheker aufsuchen und die Pflanze bestimmen lassen.
 
Vorbeugende Massnahmen
O Anstelle von giftigen Ziersträuchern ungiftige anpflanzen. Geeignet sind folgende: Japanische Apfelrose, Kanadische Felsenbirne, Fingerstrauch, Kolkwitzie, Kornelkirsche, Purpur-Hartriegel, Rosen-Eibisch, Japanische Scheinquitte, Schmetterlingsstrauch, Spierstrauch, Tamariske, Japanische Zierkirsche.
 
O Wenn Sie auf Giftpflanzen in Ihrem Garten nicht verzichten wollen, Kinder frühzeitig aufklären (nichts naschen, ohne vorher zu fragen!). Kinder darauf hinweisen, dass Giftpflanzen nicht nur im Garten, sondern nahezu überall wachsen, also auch an Spielplätzen, Hecken, Wegrändern usw.
 
O Blumenzwiebeln und Samen nicht offen herumliegen lassen.
 
O Nur Nahrungsmittel verzehren oder Heilpflanzen anwenden, die Sie kennen. Bei Selbstmedikation Dosierungen und Dauer der Anwendung beachten.
 
O Informieren Sie sich rechtzeitig über Giftpflanzen in Haus, Garten und Natur.
 
O Notieren Sie sich die Telefonnummer der Giftnotrufzentrale, des Kinderarztes und der Klinik.
 
Internet
www.vergiftungszentrale.de/vergz.html (Vergiftungszentralen A, D, CH)
(Tel.: 0761/19240)
 
Literatur
Roth, Daunderer, Kormann: „Giftpflanzen, Pflanzengifte“, Nikol Verlag, Hamburg 2008.
Scholz, Heinz: „Gefährliche Verlockung“, Ratgeber, 1996-04.
 
Hinweis auf weitere Giftpflanzen in Blogs
19.02.2010: Hausmittel (II): Sanfte Kräutertees gegen viele Beschwerden
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