Textatelier
BLOG vom: 05.10.2012

Ansichtssachen: Leichen, Mumien und der Blick darauf

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
 
Das Blog von Walter Hess über das Medizinhistorische Museum in Zürich (01.10.2012) brachte mich auf die Idee, einmal darüber nachzudenken, wie oft und auf welche Weise ich die Gelegenheit hatte, Leichen zu sehen.
 
Meine „erste Leiche“ war unser Klassenlehrer, als ich 15 Jahre alt war. Direkt nach den Sommerferien am ersten Schultag hatten wir vergeblich auf ihn gewartet. Er hatte in der Strassenbahn einen Herzinfarkt erlitten und war daran verstorben. Die ganze Klasse durfte am offenen Sarg vorbei defilieren, und so konnten wir uns verabschieden. Viele Mitschüler schauten nicht hin, ich schon. Wir mochten ihn alle gern, ein Badenser, den es ins Ruhrgebiet verschlagen hatte. Er hatte uns unter anderem Englisch unterrichtet und uns immer so auf die Klassenarbeiten vorbereitet, dass wir alle keine schlechten Noten bekamen. Bei dem neuen Lehrer änderte sich das gewaltig!
 
Während meines Studiums in Freiburg D hatte ich einen Nebenjob: Ich arbeitete an vielen Wochenenden nachts in der Neurochirurgischen Abteilung der Uni-Klinik. Meine Haupttätigkeit bestand darin, bei Koma-Patienten halbstündlich Puls und Blutdruck zu messen, Infusionen zu beobachten und später auch auszutauschen, die Patienten stündlich zu drehen, damit sie sich nicht wundlagen, den Urinbeutel zu kontrollieren und gegebenenfalls zu wechseln und frühmorgens der Krankenschwester zu helfen, die Bettwäsche auszuwechseln. In der Regel lagen 2 Patienten in einem Zimmer; für sie war ich verantwortlich, manchmal musste ich auch in 2 Zimmern diese Dienste tun.
 
Eines Tages kam es bei einem jungen Patienten, der nach einem Motorradunfall im Koma lag, zu einem Nieren- und Leberversagen. Er war an einem Beatmungsgerät angeschlossen. Nach einiger Zeit entschieden die Ärzte, dieses Gerät abzuschalten. Als keine Atemtätigkeit und kein Puls mehr erkenn-, prüf- und fühlbar war, wurde der Totenschein ausgestellt. Zur Kontrolle und Sicherheit mussten Todesfälle dieser Art aber noch für 6 Stunden nach dem Exitus beobachtet werden. Dafür wurde ich eingeteilt. Ich sass also neben dem Bett des Toten und beobachtete ihn. Es ist eine seltsame Situation. Ich wusste sicher, dass der Patient verstorben war, aber dennoch hatte ich ab und zu das Gefühl, er würde noch atmen, das Bettlaken hob und senkte sich in meiner Vorstellung. Wahrscheinlich war das eher eine Halluzination.
 
Weihnachten waren die Pflegerinnen und Pfleger froh, wenn sie nicht zum Dienst mussten, und so gab es immer die Möglichkeit, eine Nachtwache einzuschieben.
 
An einem Heiligen Abend hatten wir einen Patienten, bei dem zwar das Herz noch schlug, aber das Gehirn nicht mehr arbeitete. Das ist nicht ungewöhnlich; bei Menschen mit starkem Herzen oder Kleinkindern kann das noch einige Stunden andauern.
 
In der Stationsküche wartete ein kleines Festmahl auf uns; eine Kollegin hatte Kartoffelsalat mit Würstchen mitgebracht. Nach einiger Zeit wurden bei dem Patienten das Beatmungsgerät und die Infusion abgestellt. Nach einigen Stunden musste der Verstorbene in den Keller gebracht werden, wo die Leichen bis zur Abholung durch den Beerdigungsunternehmer lagen. Meine Kollegin und ich stellten fest, dass zu dieser Zeit noch ein paar andere Leichen im Keller lagen, alles ältere Personen. Kaum waren wir wieder auf der Station, feierten wir Weihnachten und genossen „das Festessen“.
 
In Freiburg im Breisgau hatte ich Freunde, die Medizin studierten und auch Leichen sezieren mussten. Das interessierte mich, und so nahm mich ein Freund mit in den Seziersaal der Uniklinik. Nachdem ich einen weissen Kittel angezogen hatte, sah ich wie andere Medizinstudenten aus. Es roch stark nach Formalin. Die Leichen sahen alle wächsern aus, vergleichbar mit den Figuren bei Madam Tussaud. Ich hatte nicht den Eindruck, dass es sich um verstorbene Menschen handelte, so unwirklich kamen sie mir vor. An einigen war schon seziert worden und so konnte ich mir Magen, Darm und Gebärmutter am geöffneten Körper ansehen. Es war ein seltsames Erlebnis. Auch nach dem Tod kann man noch zu Anschauungs- und Studierzwecken dienen.
 
In Bangalore/Indien kam ich unverhofft zu einer Totenfeier mitten auf der Strasse vor dem Haus des Toten, dessen Bett, auf dem er unter einem Berg von Jasmin lag, vor die Tür gestellt worden war, weil im hinduistischen Glauben ein Toter in der Wohnung Unglück bringt. Der Verstorbene war über 80 Jahre alt geworden und sah aus, als ob er schliefe.
 
Bei den meisten von uns kommt irgendwann im Leben auch die Situation, von Familienmitgliedern Abschied nehmen zu müssen. So war es auch innerhalb kurzer Zeit bei meinen Eltern. Bei meiner Mutter kam ich früh genug, um mich am Sarg von ihr zu verabschieden. Sie sah sehr friedlich aus, sie hatte ihr Leben gelebt. Bei meinem Schwiegervater war es auch so.
 
In einem früheren Blog habe ich bereits über einen Adeligen, Christian Friedrich von Kalebutz, geschrieben, bei dem aus bisher noch unbekannten Gründen etwa 100 Jahren nach seinem Tod festgestellt worden ist, dass er mumifiziert war. Die Mumie kann täglich besichtigt werden.
 
Das war nicht meine erste Begegnung mit einer Mumie. Im Britischen Museum in London kann man mehrere ägyptische Mumien sehen, vereinzelt auch ohne die Tücher, mit der man sie im alten Ägypten umwickelt begraben hatte.
 
Von England aus bin ich vor vielen Jahren nach Irland gefahren. Dort schmuggelte ich mich in einen Touristenbus, der zu Sehenswürdigkeiten in Dublin fuhr. In einer Kirche konnten wir einen Grabeskeller besichtigen. Dort lag ein mumifizierter Ritter, und uns wurde gesagt, wenn man ihm die Hand schüttle, würde das Glück bringen. Ich kann nur sagen, bei mir war es so!
 
Das Thema Tod ist in Deutschland lange tabuisiert worden. Es passierte, aber man sprach nicht darüber. Ich denke, dass das ist in der heutigen Zeit etwas anders geworden ist. Auch die Medien gehen anders damit um. Es gibt Fernsehserien, in denen Personen in Beerdigungsunternehmen die Hauptrolle spielen; in den verschiedenen „Tatort“-Krimis werden häufig „Leichen“ gezeigt, nicht nur gerade „Gestorbene“, sondern auch solche, die schon lange „tot“ waren. Manche Krimis zeigen auf drastische Weise, wie an „Leichen“ Autopsien durchgeführt werden.
 
Viele Menschen im realenLeben machen sich Gedanken darüber, was mit ihrem Körper nach dem Tod geschehen soll, so entscheiden sie, ob sie beerdigt, kremiert werden oder eine Seebestattung haben wollen.
 
Der griechische Philosoph Epikur sagt: „Der Tod geht uns nichts an. Solange wir leben, ist der Tod nicht da. Ist der Tod aber da, existieren wir nicht mehr.“ Jedenfalls ist das so bei unserem eigenen Ableben.
 
Fast alle Leichen, die ich gesehen habe, hatten einen friedlichen Gesichtsausdruck. Das kann man interpretieren wie man will. Vielleicht damit, dass sie ihren Frieden gefunden haben.
 
Eine Leiche zu sehen, ist immer ein kleiner Sieg.
 
Warum? „Ich habe die verstorbene Person überlebt!“ Ist das jetzt zynisch?
 
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