Textatelier
BLOG vom: 23.11.2012

Das Sprachgenie Martin Luther: der Wolf im Schafspelz

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
 
Der Reformator Martin Luther hatte viele Seiten, er war grob und unschlächtig. Viele seiner Aussagen muss man heutzutage als menschenverachtend ablehnen. Meines Erachtens schmälern sie seine Leistungen.
 
Er war aber nicht dumm. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, wie er sich nach seiner Protestaktion den Fängen der Kirche und der Inquisition entzogen hat. Unter dem Decknamen „Junker Jörg“ versteckte er sich auf der Wartburg. Er liess sich dazu sogar vorher „gefangen nehmen“; denn sein Landesherr, Kurfürst Friedrich der Weise von Sachsen, hielt es für angebracht, den aufsässigen Mönch zu seinem eigenen Schutz für einige Zeit aus der Schusslinie zu nehmen. Am 05.05.1521 kam er auf der Wartburg bei Eisenach an und blieb dort eine ganze Zeit, ohne dass sein Versteck bekannt wurde. Es heisst, er langweilte sich dort, aber auch, dass er von dem Burghauptmann Hans von Berlepsch in die Künste des Reitens, Fechtens und Jagens eingeweiht und so gut verpflegt worden sei, dass er gehörig an Gewicht zunahm.
 
Ende 1521 begann er, die griechische Urfassung der Bibel in die deutsche Sprache zu übersetzen. Für die 220 Seiten benötigte er nur 11 Wochen. Er soll dabei nach eigenem Bekunden häufig „unter Visionen“ gelitten haben, die er dem Wirken des Teufels zuschrieb und den er „mit Tinte bekämpft“ habe. Er hat dabei eine ganze Reihe von Wortschöpfungen erdacht.
 
In meinem Blog „Luther, die Evangelische Kirche Deutschlands und Pussy Riot“ (am Schluss verlinkt) berichtete ich über Aussprüche von Martin Luther, die ihn in kein gutes Licht rücken. Luther hat sich anderseits mit der Übersetzung der Bibel aus der griechischen Urfassung ins Deutsche ein grosses Verdienst erworben.
 
In den deutschen Sprachräumen wurde sehr unterschiedlich gesprochen. Die Sprachen veränderten sich durch verschiedene Einflüsse fortwährend. Betrachten wir die Sprachsituation im Spätmittelalter von der Mitte des 13. bis zum Ende des 15. Jahrhunderts, kann man vielfältige Einflüsse feststellen, die von den Höfen und Burgen, den bürgerlichen Schichten in den Städten ausgehend auf eine überregional gültige, vielfältig einsetzbare Sprachform zustrebte. Dies war auch durch die Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg 1446 immer wichtiger geworden. Noch war es nicht in der bäuerlichen Bevölkerung der Fall, die kleinräumig verschiedene Territorial- und Ortsmundarten sprach; der Stadtdialekt wurde eine der Grundlagen für die Entstehung von Umgangssprachen. Einen grossen Einfluss hatten auch die Literatursprachen, die in Flandern und Brabant im 12. Jahrhundert entstanden waren, die durch die Hanse, die Kanzlei Kaiser Karls IV. in Prag, und durch die Habsburger Bedeutung erlangten. Hier wurde schon auf eine Vereinfachung und Vereinheitlichung der Schriftsprache gedrängt, wie z. B. durch den Kanzler Niclas Ziegler.
 
Im Spätmittelalter entwickelte sich der Wortschatz. So setzte sich das Wort „vrouwe“ gegen „wip“ durch, „maget“, erst die Bezeichnung für junge Mädchen, wurde danach nur noch für die Dienstmagd verwendet. Die berufliche Spezialisierung und Arbeitsteilung führten zu Fachwortschätzen für See- und Bergleute, Jäger, Soldaten und Kaufleute. Der Satzbau mit Formen der Satzverknüpfung und der Satzgliedstellung entwickelten sich ebenso wie die Wortbildung mit zusammengesetzten Wörtern und Ableitungen; Tempora und Numeri von starken Verben veränderten sich, es traten Veränderungen mit dem Ausgleich von Singular- und Pluralformen und der Deklination von Substantiven auf, und der Prozess der Lautentwicklung ging voran.
 
Luther nahm als Grundlage für sein sprachliches Werk die kursächsische Kanzleisprache. Er wirkte also durch die Bibelübersetzung bei der Vereinheitlichung der deutschen Sprache in Deutschland massgeblich mit. Er kleidete seine Gedanken in eigenwillige Ausdrücke, schuf poetische Bilder und erfand neue Wortspiele. Sein Deutsch wirkte stil- und sprachbildend für Jahrhunderte.
  
Martin Luther ersann Ausdrücke wie die Feuertaufe, der Bluthund, die Selbstverleugnung, das Machtwort, der Schandfleck, der Lückenbüsser, die Gewissensbisse, das Lästermaul und der Lockvogel; wetterwendisch.
 
Viele Metaphern gehen auf ihn zurück:
 
„Perlen vor die Säue werfen”, „ein Buch mit sieben Siegeln”,
„die Zähne zusammenbeissen”, „etwas ausposaunen“, „im Dunkeln tappen“,
„ein Herz und eine Seele“, „auf Sand bauen”, „ein Wolf im Schafspelz” und
„der grosse Unbekannte“.
 
Luther war sich seiner Übersetzungskunst wohl bewusst. So schreibt er 1530 im „Sendbrief vom Dolmetschen”: „Nu es verdeutscht und bereit ist, kans ein yeder lesen und meistern... Ah, es ist dolmetzschen ja nicht eines iglichen kunst...; es gehöret dazu ein recht frum, treu, vleisig, forchtsam, christlich, geleret, erfarn, geübet hertz...” (Weimarer Ausgabe 24,24).
 
Also wenn Sie sich darüber ärgern, dass der Täter im Fernsehkrimi ein plötzlich auftauchender „grosser Unbekannter” ist, der Regisseur Sie sinnlos „im Dunklen tappen” liess; werden Sie feststellen, dass ein Blog für Sie „ein Buch mit sieben Siegeln” bleibt, dann denken Sie daran, dass Sie mit der Lutherschen Sprache umgehen! Wenn Sie dann mein letztes Blog über Luther lesen, könnten Sie zur Ansicht kommen, dass er selber „ein Wolf im Schafspelz” oder „ein Buch mit sieben Siegeln” war.
 
Ich bin sicher, dass meine Blogger-Kollegen und ich mit unserer Arbeit nicht „Perlen vor die Säue werfen”!
 
Quellen
Adolf Bach: „Geschichte der deutschen Sprache”, Heidelberg, 1949.
Friedrich Kluge: „Deutsche Sprachgeschichte”, Leipzig 1920.
Joachim Schildt: „Kurze Geschichte der deutschen Sprache”, Berlin 1991.
 
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