Textatelier
BLOG vom: 13.02.2013

D-Vergangenheitsbewältigung: Es ginge wohl auch anders

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
 
Elternhaus, Schule, Ausbildung, Studium, Bücher, Film und Fernsehen, Zeitungen und Magazine. Es gibt Inhalte, die lassen nicht los. Sie tauchen immer wieder auf, mit neuen Erkenntnissen, anderen Sichtweisen, neuen Fragestellungen. Immer wieder werde ich damit konfrontiert. Sind es die sozialen und gesellschaftlichen Beziehungen, die das Thema als neu erscheinen lassen? Oder ist es der private und persönliche Bezug dazu, bewusst oder unbewusst? Oder sind die Gründe von ausserhalb?
 
All das passiert völlig zufällig, ungeplant und ungewollt. Impulse im Kopf. Die Erfahrungen und Gedankengänge aus mehreren Ereignissen, die bei einem Thema aus verschiedenen Gesichtspunkten heraus ablaufen, verschmelzen zu ganz neuen Erkenntnissen, ergänzen sich plötzlich.
 
Alles zu abstrakt? Sie fragen sich, was ich damit ausdrücken will? Ich werde konkreter.
 
Als Sohn eines Vaters, der einen Teil seiner Kindheit, seine Jugend und die ersten Jahre seines Erwachsenenseins im 3. Reich verbracht hat, habe ich meinen Vater natürlich gefragt, was er in diesem System gedacht, gefühlt und wie er sich verhalten hat. Damals war er nicht anders wie viele in meiner Generation. Erzählt hat mein Vater nicht viel davon, obwohl die Geschehnisse dieser Zeit seine Gesundheit ruiniert haben; von den Schäden hat er sich sein Leben lang nicht erholt. Er stammte aus einem sozialdemokratisch geprägten Elternhaus, war von Kind auf gegen die Nationalsozialisten eingestimmt, hatte sich gedrückt. wo er konnte, z. B. vor der Mitgliedschaft in der Hitlerjugend.
 
Er war sein Leben lang stolz darauf, dem äusseren Zwang dazu ausgewichen zu sein. Ein klares Bild: kritisch, skeptisch, gegen das Regime eingestellt. Er hatte sich nichts vorzuwerfen, im Gegenteil, er hatte unter dem Regime viel gelitten, sein elterlicher Betrieb war ausgebombt, sein Vater und sein Bruder waren gefallen, und auch sein älterer Bruder hatte noch Jahrzehnte lang gesundheitliche Probleme aus dieser Zeit. Mein Vater stammte aus den Geburtsjahren, denen nach dem Krieg „die verlorene Generation“ zugeschrieben wurde, es gab für sie keine Chance, unbeschwert aufzuwachsen.
 
Die Probleme, mit der sich die Personen auseinandersetzen mussten, deren Biografie ich in den letzten Jahren begegnete, hatte ich nicht. Ich bin kein Kind von Eltern mit Nazi-Vergangenheit, hatte keine in dieser Zeit bemerkten jüdischen Wurzeln oder Verwandte, (abgesehen von der jüdischen Urgrosstante, die wohl in fast jeder deutschen Familiengeschichte zu finden ist), also auch keine familiären Opfer zu beklagen.
 
Dennoch hat mich die unmittelbare historische Vergangenheit immer interessiert. Wurde vieles zu Beginn meiner Schulzeit von den Erziehungspersonen, ob Eltern, Lehrer oder Geistliche, noch verschwiegen, desto fordernder wurde der Wunsch, mehr darüber in Erfahrung zu bringen. Im Geschichts- und Politikstudium hatte ich mich mit der Weimarer Republik beschäftigt, mit der Geschichte der Juden, mit ihrer Sprache, ihrer Kultur, mich gefragt, wie es denn so weit kommen konnte, dass Adolf Hitler an die Macht kam. Die Frage des Existenzrechts von Israel war ebenso dabei wie eine kritische Einstellung gegenüber ihrer Palästinenserpolitik. Schliesslich gehörte ich auch zur 68er-Generation, wenn ich die Zeit auch nicht so erfahren habe, wie die Studenten der unmittelbaren Zeit oder wie sie heute verherrlicht wird.
 
Das Thema war und ist immer latent da, und ich habe den Eindruck, in den letzen Jahren verstärkt sich die Begegnung damit.
 
Ich las über den Eichmann-Prozess, hörte das Theaterstück von Peter Weiss über die Auschwitzprozesse im Radio.
 
Ein Freund und Kommilitone betonte immer wieder, dass er Jude sei, ja kokettierte in seiner Art damit und erzählte gern, wie seine Gesprächspartner der Generation ab 40 Jahren auf dieses Bekenntnis reagierten. Sie hätten nichts gewusst, waren nicht dabei gewesen. Diese Entschuldigungsgesten belustigten ihn eher. Er war nicht betroffen; über seine Eltern und wie sie die Zeit überlebt hatten, sprach er nicht.
 
Eine Krankenschwester in der Uniklinik, in der ich Nachtwachen machte, um mein karges Studenteneinkommen zu erhöhen, war Israelin. Im Kibbuz hatte sie sich in einen Deutschen verliebt, war mit ihm nach Deutschland gezogen. Die Ehe zerbrach, nicht zuletzt wegen der Gegenwehr ihrer israelischen Verwandtschaft. Das gemeinsame Kind wurde in Israel von den Grosseltern aufgezogen, sie – als Tochter von deutschen Juden – war zwischen Deutschland und Israel hin- und hergerissen, hatte psychische Probleme und verschwand eines Tages spurlos, wahrscheinlich Richtung Israel. Ich hatte ihr ein paar hundert DM geliehen, die ich nie wiedergesehen habe.
 
Ein Arzt, den ich in der Klinik kennen gelernt hatte, hiess Rosenkranz, ein jüdischer Name. Wir haben nie darüber gesprochen.
 
Mein Bücherstudium erweiterte meine Kenntnisse dieses Wissensgebiets. Die Kriegspolitik Israels war Thema in den Medien.
 
Mit den Jahren las ich mehr darüber, mein Wissenshorizont wuchs, meine kritisch-skeptische Haltung gegenüber dem Judenstaat ebenso wie das Unverständnis, wie sich die deutsche Politik den Forderungen nach Wiedergutmachung fügte. Das ganze deutsche Volk wurde, egal wie alt die Bürger waren, schuldig gesprochen an der Shoa, dem Holocaust.
 
Ich kaufte meinem jüdischen Freund Hitlers „Mein Kampf“ ab, er benötigte dringend Geld. Hitlers Schreibstil langweilte mich ebenso wie seine Sicht auf das auserwählte deutsche Volk.
 
Ich las Sebastian HaffnersAnmerkungen zu Hitler“, interessant und spannend geschrieben, aber nicht ausreichend, um die aktuelle Sicht und Politik zu verstehen.
 
Ich las „Der Untergang des Abendlandes“ von Oswald Spengler und stellte fest, wie viele Grundlagen und Informationen mir noch fehlten, Schopenhauer und Nietzsche.
 
Ich las „Wem gehört das heilige Land“ von Michael Wolffsohn, und ich verstand etwas mehr vom historischen Konflikt zwischen Arabern und Juden. Ich las Anne Frank.
 
Ich las Schopenhauer, Nietzsche und unzählige andere Philosophen, Schriftsteller und Wissenschaftler.
 
Ich las Karl R. Popper und lernte etwas über totalitäre politische Ideologien. Ich erkannte, wie sich menschenverachtende Ideen in Hirne einpflanzen können und was Ideen anrichten können, wenn die Träger dieser Hirne an die Macht kommen.
 
Alle Theorien und Ideen, ihre Auslegung der historischen Ereignisse prägten meine Gedankenwelt.
 
Meine Examenarbeit widmete ich einem verwandten Thema, der Entstehung von Militärdiktaturen, aber dieses Mal in der sogenannten 3. Welt, in Äthiopien. Ich lernte, wie in Staaten, die sich in einem Machtvakuum befinden, deren Wirtschaft am Boden ist und deren Bevölkerung hungert, Machtkonstellationen entstehen können, die wiederum diese Macht zur Unterdrückung benutzen.
 
Egal, was ich las oder sah, immer wieder kam das Thema „Nazizeit und 3. Reich“ an die Oberfläche.
 
Ich las Daniel Jonah GoldhagensHitlers willige Vollstrecker“, in der er weite Teile der Bevölkerung als Täter bezeichnete.
 
So vergingen die Jahrzehnte. Die sogenannte Aufarbeitung der Nazizeit war endlos. Ehemalige Nazis in einflussreichen Positionen in Politik und Wirtschaft wurden entlarvt und mussten gehen, Filbinger und einige andere.
 
Dann war die deutsche Wehrmacht an der Reihe, auch sie Gehilfen bei der Vernichtung der Juden.
 
Immer mehr Filme beschäftigten sich mit dem Thema. „Jakob der Lügner“, „Schindlers Liste“, „Das Leben ist schön“ sind nur einige von ihnen.
 
Hollywood baute irgendeine Naziverquickung in unzählige Filme ein. Immer wieder wird eine Verbindung zu dieser Zeit gezogen, irgendeiner hatte dort Einfluss, und das wirkt sich jetzt immer noch aus, bis in kleinste Familienverhältnisse, so jedenfalls der Tenor der Filme.
 
Dann folgten die Aufarbeitungen der Kinder von NSDAP-Grössen, KZ-Aufsehern, Generälen der Nazizeit in Romanen wie „Zwischen den Kriegen“ von Dagmar Leupold. Waren die Väter oder Mütter schuldig oder nicht? Vererbt sich diese Schuld auf die Nachkommen? Der letzte Film „Die Wohnung“, den ich vor einigen Tagen sah, handelt von der Freundschaft einer Nazigrösse, der sogar in den Anfängen Vorgesetzter von Eichmann war, mit einer jüdischen Familie, der er frühzeitig geraten hatte, nach Israel auszuwandern. Obwohl eine der Grossmütter im KZ Theresienstadt umgekommen war, wurde die Freundschaft mit dem vormaligen Mitarbeiter in Goebbels Propagandaministerium nach dem Krieg weiter gepflegt, sogar mit Besuchen derer, die jetzt in Tel Aviv wohnen, in Berlin, einfach so. Unverständnis des Enkels, der recherchiert und den Film gedreht hat.
 
Mit den Jahren kamen die Fragen. Geht das immer so weiter? Werden unsere Kinder auch im Jahr 2045 dem Ende der Naziherrschaft in der Schule gedenken, wird dann immer noch irgendwo ein Kranz zur Erinnerung an die Shoa und an die vielen Toten niedergelegt? Und auch im Jahr 2095 noch? Gibt es eigentlich kein Entrinnen, kein „Begraben“ von Schuld, dem Zeigen auf das, was angerichtet worden ist, auf das „Volk der Mörder“? Generation nach Generation?
 
Woran liegt das? Wird jetzt der Status der Schuldigen, den die Juden als Nachfahren derjenigen, die angeblich „Jesus ans Kreuz geschlagen haben“, von den Christen bekamen, für das nächste Jahrtausend auf Deutschland übertragen? Sind jetzt die Deutschen „auf ewig“ die Mörder?
 
Auch berechtigte Kritik an der Politik Israels wird immer noch als Feindschaft an den Juden gebrandmarkt.
 
Das allgemeine Motto lautet: „Damit so etwas nie wieder geschieht!“ Natürlich will das niemand. Aber ist das ist eine plausible Begründung für das jahrzehntelange „mea culpa“ , das der deutschen Bevölkerung auferlegt wird (oder das sie sich selbst auflegt), auch der Generation, die damals Kinder oder noch gar nicht auf der Welt waren?
 
Bald sind es seit der Hitler-Herrschaft 70 Jahre her. Die meisten Täter der Zeit leben nicht mehr. Sollte die nachfolgende Generation nicht stärker betonen, dass sie nicht dafür verantwortlich ist, was damals geschah, nicht dafür verantwortlich gemacht werden kann und auch nicht mehr will?
 
Wie gehen andere Völker mit Verbrechen an der Menschlichkeit um? Wie ist das mit Russland und der Stalin-Herrschaft, wie mit Kambodscha und Pol Pot, wie mit den Kolonialmächten und den Völkermorden an der Urbevölkerung in den Kolonien? Wie ist das mit dem Vietnamkrieg, an dem immer noch Neugeborene leiden, weil ihre Eltern mit der chemischen Keule der US-amerikanischen Kriegsmacht in Berührung kamen, wie ist es mit dem Irakkrieg usw.? Die Liste liesse sich endlos weiterführen. Steht dort die Bevölkerung auch unter Generalverdacht? Wie werden die Gräuel in deren Nationalgeschichte heute behandelt, werden oder wurden sie überhaupt „verarbeitet“?
 
Das alles ist Weltgeschichte, die nie frei von Untaten und Verbrechen gegen die Menschlichkeit war. Diese Geschehnisse gehören zur Geschichte der menschlichen Spezies. Sie sollten nie vergessen werden.
 
Sollte sich der Blick darauf nicht ändern? Sollte nicht stärker auf Überlegungen von Sir Karl Popper und anderen Bezug genommen werden, um damit Ideologien zu entlarven, mit ihren dogmatischen Behauptungen, Tendenzen der Immunisierung von Kritik, aus der Verschwörungstheorien entstehen und angebliche Gesetzmässigkeiten von Werturteilen und utopischen Harmoniegedanken?
 
Es gab sie, es gibt sie, und es wird sie immer geben: Ob getarnt als Glaubenswahrheiten, politische Heilslehren, als Legitimierung für Kriege und Stellvertreterkriege von (Gross-) Mächten aller Couleur. Diese sollten kritisiert und als solche aufgedeckt werden; gegen sie sollte demonstriert und vorgegangen werden. Über versteckte Gründe zu kriegerischen Eingriffen sollte aufgeklärt werden, wie es der Griff auf Rohstoffe und Wasser oder deren angebliche Sicherung Beispiele sind. Machtbestrebungen und -gelüsten aller Art muss der Riegel geschoben werden, nicht erst nachdem, sondern bevor diese zu Taten gegen die Menschlichkeit werden.
 
In der Menschheitsgeschichte gibt es kein Volk, das sich nicht irgendwann einmal schuldig gemacht hat. Da gilt es nicht anzuklagen, sondern zu verhindern, dass es wieder passiert!
 
 
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