Textatelier
BLOG vom: 10.04.2013

Slow-Food-Anlass in Attelwil: Kontakte mit Wollschweinen

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Ein kleiner Ausflug nur in die oberen Sphären des Genusses: Vom oberen Teil der Schützenhausstrasse in Attelwil AG öffnete sich das Panorama in die Weite des mittleren Suhrentals mit dem gedämpften Grün. Bei den anhaltenden Temperaturen rund um den Gefrierpunkt überlegte sich das Gras, ob es ans Licht der Frühlingswelt treten oder in winterschläfriger Position noch etwas zuwarten wolle. Auf dem Vorplatz des Schützenhauses Attelwil versammelten zur Nachmittagsmitte des 6. April 2013 rund 30 Mitglieder der Sektion Aargau/Solothurn der Slow-Food-Vereinigung zu einer weiteren Lektion im langsamen, genüsslichen Essen von handwerklich hergestellten Lebensmitteln, aus Tieren, vornehmlich von solchen, die um ein Haar ausgestorben wären.
 
Der Riesling×Sylvaner aus Elfingen AG brauchte nicht speziell kühlgestellt zu werden. Als ob ich nicht wohlbeleibt genug wäre, nahm ich mich nach dem Begrüssungszeremoniell vorerst des vor allem aus weissem Fett bestehenden Specks von einem Wollschwein an, das sich nach dem Abschluss eines friedlichen Lebens mit genügend Auslauf bei hofeigener Verwöhnung jetzt, in Portionen zerlegt, dankbar dafür zeigte, was ihm an Gutem angetan worden war. Dieses zartschmelzende Fett, als Geschmacksträger ohnehin berühmt, fiel durch einen geradezu exquisiten Eigengeschmack auf. Alle Duftkomponenten, die im Rahmen einer natürlichen Ernährung vom struppigen Borstentier aufgenommen waren, schienen darin andeutungsweise versammelt und verschmolzen zu sein. Ein Wort für dieses gastronomische Erlebnis ist wahrscheinlich noch nicht erfunden ... es sei denn das grobschlächtige „saugut“.
 
Der Hof Strub – fast ein Nutztier-Zoo
Verschiedene Trockenwürste aus Wollschwein-, Charolais-Rind- und Gitzifleisch (junge Ziege) mit angepassten Gewürzmischungen und getrocknetes Fleisch auf Naturholzscheiben bereicherten das Buffet, besonders schmackhafte Delikatessen von Freilandtieren alter Rassen.
 
Der Landwirt Michel Strub führte uns ein Stück weit die Schützenstrasse die kurze Wegstrecke hinunter zu seinem Hof, den er zusammen mit seiner zupackenden und liebenswürdigen Frau Christa, der die Gesundheit ins reine Gesicht geschrieben ist, und seinem Vater betreut (insgesamt 16 Hektaren).
 
In einem Gehege campierten verschiedenfarbige und unterschiedlich grosse Wollschweine und Kreuzungen Wollschwein/Hausschwein in Kunststoffboxen von heller Farbe. Die braven Tiere haben individuelle Frisuren, in einem Fall gelocktes rotbraunes Naturhaar, und viel Ähnlichkeit mit Wildschweinen. Einige der Schweine, bei denen sich niemand über die Gewichtszunahme aufregt, lagen zusammengepfercht nebeneinander, um sich gegenseitig warm zu geben; Wollschweine sind dank ihrer Fettschicht und ihrer robusten Konstitution ausgezeichnet für die Freilandhaltung geeignet. Höflich, wie sie sind, standen sie bei unserer Ankunft auf, kamen über den strohbedeckten Boden in unsere Nähe und begrüssten uns mit einem Grunzen, dessen harmonischer, beruhigender Klang meine Frau ganz an die Nächte im Bett neben mir erinnerte.
 
Wir fühlten uns wie in einem Zoo, zumal sich im grösseren Gehege gegenüber saubere, fast weisse, nur mit einem ganz schwach bräunlichen Begleitton versehene Charolais-Rinder in der Mutterkuhhaltung übten – da gab es nichts von Tagesstrukturen und dergleichen familienfeindlichem Zeug. Die Mütter sind es, die ihre Jungen bewachen und betreuen, so dass keine Tierpsychiater aufgeboten werden müssen – und selbst der Tierarzt kommt nur selten zum Zuge.
 
Michel Strub, u. a. mit einem Gilet bekleidet (Inschrift: „Charolais Hélvetique“), kälteresistent, kurzärmelig und mit kritisch prüfendem Blick, erzählte von der seinerzeitigen Umstellung seines Hofs vom Milchwirtschaftsbetrieb zu einem Refugium der Tierhaltung mit verschiedenen Individuen wie eben Schweinen, Rindern, Lämmern, Spiegelschafen und Ziegen, Hühnern und Kaninchen. Ein Tigerkätzchen schlich oberhalb des Hauses umher. Alle Tiere erhalten bestes, auf die persönlichen Bedürfnisse zugeschnittenes Futter, z. B. Mais, Heu, Raps oder eben Milch ab Mutterkuh. Die Weidehaltung ist das Tüpfchen auf dem i – auch von der Qualität des aromatischen Fleischs aus betrachtet, obschon die Körperbewegung die Muskelfasern etwas verlängert.
 
Das Rind- und Wollschweinfleisch lässt Michel Strub bei 1 Grad C wesentlich länger abhängen als es sonst (zwecks Kosteneinsparung) üblich ist, was die Zartheit erhöht; das Fleisch ist besser im Biss. Neben dem Tierwohl ist alles auf eine gute Qualität ausgerichtet. Die Suppenhühner aus Attelwil sind so begehrt, dass eine Mangelsituation herrscht; die Nachfrage kann kaum gedeckt werden.
 
Detailverkauf
Der Absatz lässt sich nicht auf die heutigen Handelserfordernisse nach grösseren Mengen zuschneiden; dafür ist der Hof zu klein. Deshalb haben sich die Strubs entschlossen, alles Fleisch selber zu vermarkten (E-Mail: michel.strub@bluewin.ch), nach Wunsch portioniert vom Hof aus oder über den samstäglichen Wochenmarkt in Aarau und jeweils am Jahrmarkt im nahen Schöftland. So etwas lässt sich nicht rationalisieren, nicht automatisieren. Da immer frisches Fleisch zur Verfügung stehen muss, gilt es, dafür besorgt zu sein, dass die Masttiere entsprechend gestaffelt aufwachsen, was die Organisation noch komplizierter macht.
 
Die Eier der Hybridhühner sind klein, haben einen entsprechend grösseren Eigelb-Anteil und sind damit besonders schmackhaft. Michel Strub ist ein wahres Management-Talent, wie man im Gespräch sofort spürt, und er schafft es darüber hinaus noch, seinem Beruf als Metallbauer nachzugehen, da der Landwirtschaftsbetrieb allein als Lebensgrundlage nicht genügen würde.
 
Wollschwein-Bratwürste
Die Tiere werden in der Metzgerei Ulmann in Zetzwil AG im Wynental geschlachtet und verarbeitet. Dort ist auch der Metzger Mathias Hauri (wohnhaft im Auw im Freiamt) angestellt, der uns im Haus der Feldschützen in die Wollschweinsbratwurst-Herstellung mit einfachen Geräten einführte. Der Eintritt ins Haus traf sich gut, nachdem sich draussen mein Kugelschreiber kältehalber zu weigern begonnen hatte, die Tinte frei fliessen zu lassen – und da gab es doch so viel, das festgehalten werden musste. In dem mit einem Elektroöfeli leicht angewärmten Lokal erholte sich das Schreibzeug allmählich. Und die Fleischverarbeitung ging in dem noch immer leicht unterkühlten Raum problemlos vonstatten.
 
Das Schweinefleisch für die Bratwürste hat einen Fettanteil von rund 40 Prozent. Es wurde in einem elektrisch betriebenen Fleischwolf mit 5-mm-Scheibe zerkleinert; in Italien, wo in den Würsten gröbere Fleischstücke erwartet werden, verwendet man 8-mm-Scheiben. Darunter mischte der Metzger Hauri pro Kilo Fleisch 20 g Salz, 2 g Pfeffer, 1 g gemahlene Muskatnuss, sodann Majoran, geschroteten Kümmel, gedämpfte Zwiebeln usw. Die Masse wurde gut durchgeknetet und dann durch eine handbetriebene Wurstmaschine mit einer spritztüllen-ähnlichen Verengung in Schweinedärme gedrückt, die im Wasser geschmeidig gemacht worden waren. Solche Därme kauft man in China (50 m kosten etwa 30 CHF).
 
Die frischen Würste wurden anschliessend draussen auf einem grossen Holzkohlengrill gebraten. Sie gewährleisteten ein wahres Festessen, voller Saft und Kraft, zu Randensalat, Kopfsalat und hausgemachtem, perfekt abgeschmecktem Gratin dauphinois.
 
Die fettdurchzogenen Spareribs (Bauchrippen), ebenfalls vom Grill, setzten Massstäbe. Ich habe erst einmal in meinem Leben solche vollmundigen Rippen vom Lagerfeuer genüsslich verzehrt – von einem Wildschwein im Pantanal (Brasilien), das eine Gruppe einheimischer junger Männer ohne Gewehr zur Strecke gebracht hatte, wobei einer schwer in den rechten Arm gebissen wurde – das Tier hatte also eine faire Chance. Solch ein Fleisch ist von höchster Güte, von einem grandiosen Wohlgeschmack; die Stücke, die am Knochen anliegen, gehören sowieso zum Besten.
 
Das Schicksal der Wollschweine
Die Wollschweine, eine alte ungarische Landrasse, haben einen relativ hohen Fettanteil im entsprechend schmackhaften Fleisch, was diesem Fettschweintyp Mangaliza in einer Gesellschaft von Kalorienzählern beinahe zum Verhängnis geworden wäre – Wollschweine waren in der Schweiz fast ausgestorben. Zu ihrer Verdrängung mag auch beigetragen haben, dass sie sich wegen ihres Freiheitsdrangs schlecht für die Massenhaltung eignen. Dass man sie durch marktgängigere Rassen ersetzte, war aus Gourmetsicht ein ausgewachsener Blödsinn, zumal das Wollschweinfett cholesterinarm und reich an Omega-3-Fettsäuren ist. Wie gut muss man doch innerhalb der Österreichisch-ungarischen Monarchie noch gegessen haben ... königlich! Die Wollschweine wurden ab 1968 durch die Vereinigung Pro Spezie Rara erfreulicherweise wieder gefördert.
 
Zum Dessert bediente man sich von einer delikaten, mit hausfraulichem Feingefühl zubereiteten Schoggi-Rahm-Roulade aus der Küche von Christa Strub. Der berühmte Rahm aus silofrei produzierter Milch stammte von der Dorfkäserei in Koppigen BE, die ihren Eltern gehört.
 
Ein Rüebli-Maromor-Cake seinerseits als Abwandlung der Aargauer Spezialität Rüeblikuchen erwies sich als Delikatesse aus der Feinschmeckerküche von Edith Byland, die zusammen mit ihrem Mann Wolfgang Byland den gelungenen Anlass minuziös inszeniert und vorbereitet hatte.
 
Der Cake aus Mehl, Haselnüssen/Mandeln, Eimasse, dunklem Schokolade- und Kakaopulver usw. war angenehm feucht und mit einer abgeschabten Bioorangenschale parfümiert. Der Zuckerguss hatte seinen Pfiff wegen der beigemischten, kandierten Orangenstücklein erhalten – noch ein himmlisches Dessertvergnügen.
 
Die Mitglieder-Jahresversammlung
Zwischendurch wurde die Mitglieder-Jahresversammlung des Slow-Food-Conviviums Aargau Solothurn unter der Leitung von Präsident Mauro („Melchiorre“) Catania, der seit 1 Jahr im Amte ist, zügig abgewickelt. Der gebürtige, auch malerisch begabte Sizilianer ist den Vereinszielen, der Ernährungserziehung und der Weitergabe von Wissen rund um die Lebensmittel vor allem auch an junge Leute, mit Leib und Seele zugetan.
 
Das Vereinsvermögen beläuft sich auf rund 10 000 CHF, hat im Jahr 2012 um etwa 60 CHF abgenommen ... woraus man sieht, dass die finanzielle Situation praktisch bedeutungsarm ist. Eine Non-Profit-Organisation in Reinkultur. Beim Traktandum „Wahlen“ war zu erfahren, dass Vorstandsmitglied Wolfgang Byland die Kontakte zu Lebensmittelproduzenten sucht und pflegt, zu Spezialisten also, die nach der Slow-Food-Philosophie wie Ethik und Genuss nach ökologischen Vorgaben produzieren und das alte Lebensmittelhandwerk nicht auf dem Trümmerhaufen der vereinheitlichenden Globalisierung entsorgt haben. Die Ökologie und ein regionaler Bezug gehören zu den weiteren Bedingungen. Solche Produzenten werden katalogisiert – eine gute Ausgangslage für ihre Unterstützung.
 
Vorstandsmitglied Pepi Helg, der die Verbindung zur nunmehr seit 20 Jahren bestehenden Schweizer SF-Vereinigung herstellt, tat kund, man wolle in Zukunft auch politisch aktiv werden, das heisst der Politik, wo sie sich mit der Ernährung befasst, neue Impulse im Hinblick auf die vermehrte Beachtung des Traditionellen, Handwerklichen und der Wiederbelebung alter Sorten und Rassen geben.
 
Dann stand noch sein Antrag im Raum, sich an der SF-Aktion „10 000 Gärten für Afrika“ mit 1200 CHF für 1 Nutzgarten zu beteiligen, um wenigstens punktuell einen Beitrag an die Rückkehr zur Lebensmittel-Souveränität zu leisten, die ja in der Zeit des ausbeuterischen Kolonialismus und auch nachher durch westliche Länder in Afrika zunichte gemacht wurde. Es geht dabei um eine Starthilfe zur Selbsthilfe, die sich vor allem an Frauen richtet. Da noch zu wenig präzise Angaben zur Verfügung standen, wurde der Vorstand beauftragt, Einzelheiten zu diesem an sich begrüssenswerten Hilfsprojekt zu sammeln, so dass bei nächster Gelegenheit aufgrund eines höheren Informationsstands definitiv entschieden werden kann.
*
Ein ausreichendes Wissen ist in Bezug auf alle Ernährungsfragen von Belang. Verantwortungsbewusstsein und Genussfähigkeit sollen eine innige Verbindung eingehen – ein permanenter Prozess, der jeden Einsatz lohnt. Die fortschreitende Degeneration rund um die Nahrung mit dem aus den USA forcierten, verbreiteten Gräuel der Gentechnologie wird wohl kaum zu stoppen sein; vielleicht aber lässt sie sich ein wenig abbremsen. Das Ziel ist ein besseres, angenehmeres Dasein für alle Lebewesen.
 
Auch für Nutzpflanzen, Wollschweine und ihre Liebhaber wie unsereiner.
 
 
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