Textatelier
BLOG vom: 12.12.2014

Pirmin Meier referierte enzyklopädisch über Enzyklopädien

Autor: Walter Hess, Publizist (Textatelier.com), Biberstein AG/CH
 
 
Die alte Gelehrsamkeit sei durch nichts zu ersetzen. Der Historiker und Historische Schriftsteller Dr. Pirmin Meier muss das wissen; denn er lebt gleichermassen in den Dimensionen der Geschichte und in jenen der Gegenwart, sozusagen zwischen Johann Heinrich Zedler (1706‒1751), dem Begründer des Grossen vollständigen Universal-Lexicons, 64 Bände mit 63 000 Seiten und 4 Supplementärbände umfassend, und Wikipedia, dem im Internet abrufbaren, neuen, ständig aktualisierten und ergänzten digitalen Lexikon.
 
Mit Fehlern leben
Wie jedes andere Schriftstück, so sind selbstverständlich auch Enzyklopädien, also besonders umfangreiche Wissenszusammenfassungen mit vernetzenden und weiterführenden Bezügen, ebenso wie die schlankeren Lexika kaum fehlerfrei. Und ist einmal ein Fehler in die Welt der angehäuften Buchstaben gesetzt, pflanzt er sich fort wie eine ansteckende Krankheit. Pirmin Meier schöpfte selbst bei dieser Thematik aus dem Vollen und gab bei seinem Vortrag in Aarau beispielhaft bekannt, es gebe kein feststehendes Geburtsdatum von Paracelsus (Philippus Theophrastus Aureolus Bombastus von Hohenheim). Dessen Geburtsjahr kam nur durch eine Rückrechnung zustande, und wo immer ein bestimmter Tag aus dem vermuteten Monat November 1493 erwähnt werde, sei das falsch, abgesehen von einem Glückstreffer. Auch der genaue Geburtstag innerhalb des Jahres 1412 von Jeanne d’Arc (Johanna von Orléans) ist unbekannt. Und ob das überall angegebene Geburtsdatum, 08.01.1983, von Kim Jong-un, dem Herrscher in Nordkorea, stimmt, steht in den Sternen.
 
Fiktive Geburtsdaten, einmal ins Internet gesetzt, werden unkritisch abgeschrieben, sogar vom Österreichischen Gelehrtenkalender. 
 
Wikipedia-Geschichte und -Geschichten
Selbst an sich feststehende Fakten wie der Geburts- und Todestag einer Person führen also zu Knacknüssen, geschweige denn Fragen, bei denen es um eine subjektive Wertung einer Fülle von vorliegenden Fakten geht. Das Wikipedia-Lexikon, an dem im Prinzip jedermann mitschreiben kann, musste sich zuerst einmal an eine möglichst gute inhaltliche Qualität herantasten, und Meier betrachtete dieses elektronische Werk mit dessen offensichtlichen Kinderkrankheiten anfänglich und bis 2009 als eine „Dubeli-Enzyklopädie“, bis dann 2009 Jimmy Wales neue Qualitätsregeln einführte.
 
Anfänglich wurden Persönlichkeitsbilder, die ins wachsende Werk Eingang fanden, nicht selten mit Hasstiraden überschüttet, und unüberprüfte Fakten wurden eingefügt, was auch der Referent persönlich erfahren hat, indem ihm etwa ein inexistentes Werk „Der Ringkampf mit Bernadette“ sozusagen ins biografische Nest gelegt wurde. Für schweizerische Belange hat der ehemalige Chefredaktor der Schweizerischen Depeschenagentur (SDA), Peter E. Müller, in den letzten Jahren Bemerkenswertes zur Wikipedia-Verbesserung beigetragen.
 
Seither ist Meiers Urteil weniger vernichtend, denn die Qualität wurde in Einzelfällen beeindruckend angehoben. Das ist weitgehend auch das Verdienst von Jimmy Wales, der 1966 in Huntsville/Alabama (USA) geboren wurde und der Hauptgründer der Online-Enzyklopädie ist. Er hatte 1996 das Webunternehmen Bomis gegründet, das eine Online-Enzyklopädie herausgab, die als Nupedia im März 2000 im Netz aufgeschaltet wurde. Zu jener Zeit kam Larry Sanger als Organisationschef hinzu, und dieser prägte das weitere Geschehen entscheidend mit. Das Wikipedia-Projekt wurde 2001 gestartet (die Wikipedia-Geschichte ist unter
nachzulesen.
 
Aufklärung – Zeitalter der Wissensvermittlung
Die Menschheit hat schon immer davon geträumt, auf alles verfügbare Wissen mühelos zugreifen zu können. Besonders virulent war dieser Wunsch im Zeitalter der Aufklärung zwischen etwa 1650 bis 1800, um die Zeit des Aberglaubens und der Indoktrination durch die Religionsgewaltigen zu überwinden. Aufklärung war somit auch Auflehnung. Selbstredend wurde alles versucht, um dem Volk den Zugang zu erweiterten und möglichst erhärteten Erkenntnissen zu erschweren oder gar zu verunmöglichen. Ein ungebildetes Volk lässt sich besser führen.
 
Da Bücher rar und kaum erschwinglich waren, wurde die Wissensverbreitung auch dadurch stark erschwert. Nichtsdestotrotz schrieb Johann Heinrich Zedler mit 9 hochqualifizierten Mitarbeitern an seinem „Universal-Lexicon“ herum. Die Schaffenskraft dieser spätbarocken und doch aufgeklärten Polyhistoren war gewaltig, unvorstellbar. Pirmin Meier zeigte sich davon sehr beeindruckt: Mit dem ganzen Körpereinsatz und seiner kraftvollen Ausdrucksweise, seinen die Bündigkeit herstellenden Betonungen wanderte der Hüne Meier im Vortragssaal des Theologisch-Diakonischen Seminars an der Frey-Herosé-Strasse in Aarau gestikulierend umher. Manchmal hatte ich Angst, er würde aus Versehen den bereitstehenden Prokischreiber demolieren, den er ebenso wenig brauchte wie ein Manuskript. Pirmin Meier spricht frei, und seine wichtigste Nebenaufgabe besteht darin, sich selber abzubremsen, wenn die anderthalbstündige Vortragszeit abgelaufen ist. Der Kurs wurde im Rahmen der Volkshochschule Aarau (VHA) am 04.12.2014 durchgeführt.
 
Zedler und Meier – gewisse Parallelen sind meiner Ansicht nach vorhanden: unermüdliche Faktensammler und -auswerter, die via fundamentale Werke oder mit Vorträgen interessierte Menschen beehr(t)en. Zedler wirkte vor allem in Leipzig, wo er sein „Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschaften und Künste, Welche bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden“ schuf. Der schwerfällige Titel gibt einen Hinweis auf den universellen Charakter und die Gewichtigkeit des Riesenwerks. Zedler trug zusammen, was er im Meer des Wissens und des Irrtums auftreiben konnte; er wertete und ergänzte. Zum Beispiel: Der Marktort Zurzach galt, wie aus dem Umfang des Textbeitrags zu schliessen ist, als der bedeutende Ort im Aargau; Aarau, die heutige Aargauer Kantonshauptstadt, musste sich mit relativ wenigen Zeilen begnügen. Besonders hervorzuheben ist, dass der „Zedler“ einen überkonfessionellen Ansatz und selbst Aussagen aus der Bibel nicht unkritisch übernahm. Nebst dem Berner Albrecht von Haller hat sich auch das Kloster Einsiedeln ab Erscheinen nach diesem Kolossalwerk orientiert.
 
In die Vorworte arbeitete Zedler jede Menge politisch korrekten und frommen Weihrauch ein, um den Früchten seines Schaffens den Weg zu ebnen, die er als nützlich, jedenfalls als nicht schädlich deklarierte. Damit wollte Zedler verhindern, dass der Vatikan das Werk auf den Index Librorum Prohibitorum („Verzeichnis der verbotenen Bücher“) setzte – eine Massnahme allerdings, die schon damals einen gewaltigen Werbewert hatte. Dennoch stand das Lexikon laut Meier im machtpolitisch luftleeren Raum, weil die meisten Leute, auch Gelehrte, an ein Werk wie den „Zedler“ kaum herankommen konnten. Heute ist die Mammut-Enzyklopädie auch als Nachdruck antiquarisch nur mühsam erhältlich; bestenfalls schlummert es in seinem ganzen 68-bändigen Umfang in einer abgelegenen Ecke einer öffentlichen Bibliothek, im Regelfall, wenn überhaupt, in den Lagerräumen beziehungsweise in den Aussenlagern. Die grosse Mehrheit der Studierenden der Geisteswissenschaften hat kaum mehr eine Ahnung, dass es dieses Lexikon überhaupt gibt, geschweige denn, dass man bei entsprechend kritischem Gebrauch noch heute davon profitieren könnte.
 
Fakten-Check Biberstein
Am Beispiel meines Wohnorts Biberstein wurde im Weiterbildungskurs in Aarau eine werkgetreue Kostprobe aus dem Zedler vermittelt:
 
„Biberstein, oder Bieberstein, ein Schloss und Vogtey im Canton Bern, eine Stunde von Aarau an Fluss Aar gelegen, hatte vor diesem seine eigene Graffen von Biberstein, welche es an die Graffen von Habsburg verkauften, unter denen es Graff Hanss von Habsburg nebst den Hoff Rohr jenseits der Aar an. (anno) 1335 an Rudolphen von Bütticken St. Johanniter-Ordens Ritter durch Kauf überliess; hernach hat an.1454 Hanss Arnold Sägesser Commenthür zu Biberstein, von der Stadt A(a)rau die Herrschafft Königsstein noch dazu erkaufft. Es blieb also in den Händen des Ordens biss an. 1535, da der Commenthür Johannes von Hattstein die Feste Biberstein samt den Flecken und der Herrschafft Königsstein, wie auch allen daran abhangenden, so wohl als einigen andern Gütern und Gerechtigkeiten der Stadt Bern zu kauffe gegeben. Von dieser Zeit an hält die Stadt Bern einen Ober-Voigt in dem Schloss, und begreifft diese Ober-Vogtey zwey Kirchspiele. an 1587 ist das Schloss abgebrannt, aber bald wieder aufgebauet worden. Fuggers Ehren-Spiegel des Hauses Oesterreich. Schwederi Theatr. Controv. Illustr.II.I.15. Tom.l.p.166. Stumpf VI.p.241.“
 
Gewissermassen eine Zusammenfassung ist das 3000 Seiten umfassende Werk „Staats- und Conversations-Lexico, darin so wohl Religionen, die Reiche und Staaten“ erfasst sind, erschienen 1782 in Gleditschens Buchhandlung in Leipzig.
 
Weitere grosse Geister
Diese zitierte Schilderung stammt aus einer Zeit, als es den Aargau noch nicht einmal gab. Sie ist recht gut lesbar. Die Beschreibungen wie jene der Fliege (Stubenfliege) sei ein Genuss, sagte mir Pirmin Meier. Das waren Parforceleistungen. Und bei dieser Gelegenheit wies er auf den Mediziner und Wissenschaftspublizisten Albrecht von Haller (1708‒1777), ein Universalgenie, hin: „In Sachen Wissen ein Gigant, der z. B. 4500 Alpenpflanzen auswendig benennen konnte.“
 
Zu Ehren kam auch der französische Schriftsteller und Aufklärer Denis Diderot (1713‒1784), der nach der Prophezeiung des Referenten noch in 100 Jahren mit Gewinn gelesen werden wird. Diderot hat mit seinem Wissen die Welt verändert und der „pfäffischen Macht einen bleibenden Schaden zugefügt“. Bis zum heutigen Tag gab es nie mehr ein Lexikon, das Politik und Gesellschaft so stark zu verändern vermochte wie Diderots Enzyklopädie, auch Zedler nicht, weil seine Neigung zu deutscher Gründlichkeit, aber auch die oben beschriebene Vorsicht das durchaus vorhandene revolutionäre Potenzial verdeckte. 
 
Als grosser Geist aus dem Aargau (Aarau) wurde der Schriftsteller und Pädagoge Johann Heinrich Daniel Zschokke (1771‒1848) erwähnt, der zudem der bedeutendste Förster im Aargau war. Und ebenfalls wurde der wegen seines politischen Engagements umstrittene Hektor Ammann (1894‒1967) genannt, der eine Zeitlang als Staatsarchivar und Kantonsbibliothekar wirkte und als Wirtschaftshistoriker angesehen war. Er hat, wie Haller und mutmasslich Zschokke, dann und wann mit dem „Zedler" gearbeitet, nach Pirmin Meier noch heute ein Geheimtip für Wissenschaftshistoriker. 
 
Der „wissenschaftliche Schatten“
Der 1948 in Bern geborene Physiker und Philosoph Eduard Kaeser sprach einmal vom „wissenschaftlichen Schatten“ und meinte damit das, was Menschen einst wussten und das dann wieder dem Vergessen anheimfiel. Jeder Fortschritt trage auch einen Rückschritt mit sich, fügte der Referent Meier bei. Als man den letzten Freiburger Muni, der nicht mehr den modernen Leistungsanforderungen entsprach, geschlachtet habe, sei damit auch ein Erbgut vernichtet worden, von dem niemand wissen konnte, wofür es einmal gut sein könnte. Die Metapher mit dem Freiburger Muni geht nicht auf Kaeser zurück, sondern auf den Metzgerssohn Pirmin Meier. Er bekennt sich zur Neigung, in vielem Veralteten und Vergessenen das Kind wiederzuentdecken, das einst mit dem Bade ausgeschüttet wurde.
 
Wer sich allzustark auf das Wikipedia-Lexikon verlasse, laufe in besonderer Weise Gefahr, sich voreilig für informiert zu halten und dasjenige in die Vergessenheit abzudrängen, was dann doch oft näher an den Quellgründen des Wissens sei. Daraus leitete Meier diese Forderung ab: Die Spitzenforschung darf sich niemals nur auf Wikipedia berufen, ansonsten sie sich selber disqualifiziert. Und ganz allgemein gilt der Grundsatz, sich mit den oftmals wenigstens im methodischen Ansatz exemplarischen Werken aus der aufklärerischen Geistesgeschichte zu befassen und auf dieser Basis seine eigenen Schlüsse zu ziehen. Das Erschliessen der Schatzkammern der Gelehrsamkeit sollte nicht mit einem gedankenlosen Herumgoogeln verwechselt werden.
 
 
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