Textatelier
BLOG vom: 08.01.2015

Computer-Technologie: Eskapaden der Software-Gestalter

 
Autor: Walter Hess, Publizist (Textatelier.com), Biberstein AG/CH
 
 
Die Kultur der Geschwindigkeit, der Beschleunigung: Wenn man ein Beispiel für die Schnelllebigkeit dieser Zeit finden müsste, würde man bei der Computer-Technologie mit all ihrem Drum und Dran sogleich fündig. Der Blitz ist der Massstab. Auch wer der Technik mit der gebührenden Skepsis gegenübersteht, kommt nicht ums Staunen herum: Es ist nicht zu fassen, was moderne Computer eben blitzartig zustande bringen. Sind sie einmal mit einem zweckmässigen Programm (Software) gefüttert, führen sie dieses makellos aus, ohne Wenn, Aber und Pannen. Und zwar sofort. Gewerkschaften können nicht bremsend einwirken, höchstens Hacker mit Spürsinn und technischem Wissen. Besonders augenfällig wird die Leistung der Rechner, wenn die Datenkommunikation mit dem Paradepferd Internet mit im Spiele ist, wenn Briefe, Fotos und Filme ohne Verzug in alle Welt hinaus verteilt werden. Gibt man als Nutzer seine kürzeren oder längeren Schriftstücke im Zwei- bis Zehnfingersystem ein, kommt man sich vergleichsweise wie eine Schnecke, die fast das ganze Tempo eingebüsst hat, vor. Gleichwohl überleben die Postboten, weil sie aufs Materielle fixiert sind. Hat man eine neue Festplatte aus dem Internet-Katalog bestellt, muss diese physisch angeliefert werden.
 
Seit meinem Eintaucher ins Computer-Zeitalter im Juni 1989, also vor gut 25 Jahren, war und bin ich immer wieder der Überzeugung, an der Spitze der technologischen Entwicklung zu sein. Das war insbesondere nach dem Kauf des Toshiba T3100/20 der Fall, den mein fast ein Jahrzehnt jüngerer Bruder für mich ausgewählt hatte. Er kannte sich dank seiner Begabung im logischen Denken in der digitalen Produktesphäre bereits damals bestens aus; sein Gehirn hat gewissermassen eine Analogie zur Arbeitsweise eines Computers. Ihm leuchten technische Abläufe immer gleich ein (im Gegensatz zu mir, der ich alles, ums Verstehen ringend, hart zu erarbeiten hatte und habe). Auch im Medienhaus „Aargauer Tagblatt“ begann zu jener Zeit die Computerzukunft, in die ich vom damaligen Direktor Heinz Bächinger höchstpersönlich und mit dem gebührenden Einfühlungsvermögen eingeladen wurde. Ein Entrinnen war unmöglich.
 
Der Computer wurde zum wichtigsten Allzweckwerkzeug, auch für mich. Im Herbst 2007 installierte mir mein Schwiegersohn Urs den DELL XPS720, ein spiegelndes, 55 cm hohes und ähnlich tiefes, gut 20 cm breites Gehäuse, in dem das leichte Rauschen eines Ventilators Präsenz markiert. Dieser Kasten mit den abgerundeten Eckbereichen, aus dem hinten wie aus einer Spaghettipresse ganze Bündel von Kabel herauswachsen, wurde zum Herzen eines kleinen, internen Netzwerks. Der DELL leistete seither gute und zuverlässige Arbeit, wurde allmählich aber, einem alten Menschen ähnlich, immer langsamer. Ich habe Ahnung von dem, was er mir damit kundtun will.
 
Ein Computer darf seinen Geist nicht aufgeben, besonders, wenn man eine Webseite (www.textatelier.com) betreibt und sich selber tägliche Lieferverpflichtungen auferlegt hat. Sein Ausfall bringt alles zum Einsturz. Urs steht mir bei Problemen und Aktualisierungen immer zur Seite, ebenso nach wie vor mein Bruder Rolf, der Diagnosen und Ratschläge aus dem fernen Asien anliefert. Ich und meine Werkzeuge sind also bestens betreut. Die beiden Computerexperten zwingen mich, gegen digitale Ermüdungs- und Überalterungserscheinungen anzukämpfen und auf der Höhe der IT-Technologie zu bleiben, wenn nötig mit sanfter Gewalt. Ist man in die Digitalität involviert, geht es nicht anders. Wie solches bedauernswerte Menschen schaffen, die nicht auf eine familieninterne Rundumbetreuung zählen können, ist mir schleierhaft.
 
Auf diesem fruchtbaren Nährboden ergab es sich, dass Urs unmittelbar vor den Weihnachtsfeiertagen 2014 vollkommen überraschend einen „HP Compaq 8200 Elite“-Tower anschleppte, der etwas weniger voluminös als der DELL ist. Die Maschine sei mit neuer Software bereits vorbereitet, beruhigte mich Urs. Das Betriebssystem Windows Vista, das 2007, mithin kurz vor meinem damaligen Dell-Kauf, das Licht der Computerwelt erblickt hatte und damals das Neueste war, was der Markt zu bieten hatte, sei ein „Chrüppelprogramm“ und mir nicht länger zuzumuten, sagte der Lieferant, der nicht einfach ein Bestellung abwartet, sondern Bedürfnisse erkennt. Jetzt sei die  neueste Version von Windows 8 drauf. Urs begann, Stecker einzustecken und umzustecken, und zur Sicherheit und zu meiner Beruhigung wolle er nun vorerst den alten und neuen Computer parallel laufen lassen, komme, was da kommen möge. Er mag unausgesprochen befürchtet haben, dass ich mich in der neuen digitalen Dimension verhaspeln und dankbar für einen vertrauten Zufluchtsort sein könnte.
 
Also hantiere ich seither hinter 3 Bildschirmen (2 hatte ich schon, weil man dann mehrere Dokumente gleichzeitig geöffnet haben kann, ohne die Übersicht zu verlieren), mit 2 Tastaturen und 2 Mäusen. Mein Computerzoo hat sich ziemlich ausgeweitet. Der Gewinn durch die erhöhte (vereinfachte) Bedienbarkeit wird durch erweiterte Anwendungsmöglichkeiten mit der damit gesteigerten Komplexität laufend wieder aufgefressen, jedenfalls, bis alles in Fleisch und Blut übergegangen ist.
 
Zu meiner Riesenüberraschung lief dank der professionellen HP-Einrichtung von Anfang an alles recht gut. Selbst die Übertragung der Outlook-Daten (E-Mails) klappte auf Anhieb. Allerdings kommen noch alle Briefe in doppelter Version auf beiden Computern an, was eine Verdoppelung der Post bedeutet. Das wäre bei entsprechendem Sicherheitsverlust (doppelt genäht) leicht zu ändern. Ich kopierte eine Anwendung nach der anderen (wie Twitter und Facebook) auf den neuen Computer, fahndete in meinen Passwort-Listen. Die Festtage rasten dahin.
 
Nach einem Schnellkurs über die wichtigsten Bedienungsschritte erwies sich mein Einarbeiten in die neuen Benutzeroberflächen-Philosophien als zeitaufwändig. Gewisse Bedienungselemente schienen glattweg verschwunden zu sein. In Tat und Wahrheit sind sie unter neuen Sammelbegriffen versteckt, manchmal kommen nach einem Eindrücken der linken Maus-Vorderseite ganze Menus zum Vorschein.
 
Erschwerend kommt für mich hinzu, dass es mir nicht gelingt, nachzuvollziehen, was sich in den Gehirnwindungen der Softwareentwickler abgespielt haben mag. Das Schaltersymbol ist versteckt, es gibt verschiedene geheime Lösungen, die das ermöglichen. ein HP ist so eingerichtet, dass ich Alt und F4 gleichzeitig drücken muss, um meinen Neu-Computer herunterfahren zu können. Dies habe ich inzwischen gelernt, so wie man etwas lernt, ohne die entsprechenden Zusammenhänge zu verstehen. Man hat beispielsweise auswendig gelernt, dass die Schlacht bei Marignano 1515 stattfand, weiss aber nicht mehr genau, warum sich Eidgenossen und Franzosen, angereichert durch eidgenössische Söldner, gegenseitig die Köpfe einschlugen (es ging um das Herzogtum Mailand und führte zum Ende der eidgenössischen Expansionslüste).
 
Was mag in den Gehirnwindungen der Software-Ingenieure vorgegangen sein? Welche Strategien verfolgten sie? Handelte es sich bei ihnen um Alternative (Alt), welche die Computerei durch Komplizierungen auf ein erträgliches Mass zurückfahren wollten? Und was bedeutet F4? Es gibt ein entsprechendes Plakatformat (1280 x 895 mm), das auch unter dem Namen Weltformat bekannt ist. Wollten die Software-Kreateure also ausdrücken, ihr Werk habe Weltformat? Mit meiner alten Nikon F4 aus den 1990er-Jahren dürfte das Kürzel wenig zu tun haben. Die Funktionstaste F4 (eine von 12), die nun plötzlich zum Symbol des Computerabstellens (= Feierabend) wurde, bleibt für mich so rätselhaft wie vieles, das sich in der digitalen Sphäre mit ihren aufziehenden Wolken (Clouds, einer Ober-Technologie für unendliche, neue Anwendungen) abspielt.
 
Wegen des neuen Computers habe ich meine Identität eingebüsst, wie ich einsehen musste. Nicht einmal Twitter und Facebook erkannten mich wieder; ich musste mich neu anmelden, mich vorstellen. Das bedeutet doch, dass ein technisches Gerät mehr zu meiner Identifikation beiträgt als ich als Person, die halt eben unberechenbarer ist. Ich habe mich damit abgefunden.
 
Immerhin konnte ich mich inzwischen bis in die geheimsten Kammern des neuen Computers und seiner Innereien durchkämpfen, bis hin zu den Formatierungsbefehlen. Der unglaublich schnelle Prozessor, der sich Intel® Core™ vPro™ der 2. Generation nennt – einem schwer zu knackenden Passwort nicht unähnlich –, hat es paradoxerweise fertiggebracht, mein Arbeiten zusätzlich zu verlangsamen und gar zu unterbrechen, weil ich immer wieder an Hürden stosse. Doch mit zunehmender Übung hole ich auf, was auch nötig ist, denn es scheint, als wolle mir der Computer vorausrasen, und so muss ich mich bemühen, alles im Griff zu behalten.
 
So hatte ich meine Aufgaben in den Tagen um die Jahreswende, die für mich aber nicht zu einer Computerwende wurde, sondern es handelt sich um eine Anpassung an neue Verhältnisse, eine Art Evolution in ihrer Kontinuität, wie sie der Zeitenlauf immer wieder und immer schneller erzwingt.
 
Es kann somit der Frömmste (und auch wir Unfrommen) nicht in Frieden leben, wenn es den Innovationen, denen man sich kaum noch entziehen kann, nicht gefällt. In den berufsaktiven Jahren stellt man sich die Pensionierung als einen langen Lebensabschnitt der Entspannung und Ruhe vor. Und dann muss man erkennen, dass man mitgerissen wird, auf den weiterfahrenden Zug aufspringen muss, um weiterhin dabei zu sein und nicht dem hintersten Wagen nachwinken und auf der offenen Strecke zurückbleiben zu müssen. Gerade die Jahre im höheren Alter zwingen einen in der zunehmend beschleunigten, stimulierten und mit Reizen überfluteten Gesellschaft immer wieder zu regelrechten Marathonleistungen, anpassungsbedingt, wie mir inzwischen aufgegangen ist. Fernsehen und Computer tragen dazu bei. Die Irrmeinung, mehr Sinnesreize seien Garanten für mehr Glück und in Phasen der Entspannung verpasse man etwas, verführt uns in die falsche Richtung.
 
Innerhalb eines schleichenden Alterungsprozesses mehren sich zu alledem die Anzeichen dafür, dass man Anpassungen oder Umstellungen vornehmen muss. Die Organe arbeiten langsamer, und die Leistungsfähigkeit nimmt ab (siehe DELL). Man muss etwas kürzer treten und die Ernährung im weitesten Sinne und alle anderen eigefleischten Verhaltensweisen auf neue Bedürfnisse abstimmen. Es gibt zwar kosmetische Update-Angebote, die eben Kosmetik sind und sich bald ins Gegenteil verkehren; gestraffte Gesichtszüge entgleisen früher oder später, erstarren zur Maske. Am Verlauf des allgemeinen Geschehens ändern das Abschaffen der Falten und das Hautstraffen nichts. Man kann sich persönlich nicht durch eine verjüngte Generation wie im Computergeschehen ersetzen.
 
Menschen, die sich solchen Zwängen nicht fügen wollen, strampeln sich ab, rasen auf allen Pisten herum und nutzen alles, was die Verjüngungsindustrie gerade im Angebot hat. Die vermehrte Ruhe und Beschaulichkeit, welche die Gebote der Stunde wären, verkommen zur zusätzlichen Hektik, ohne dass der Einbau eines schnelleren Prozessors diese aufzufangen vermöchte. Stattdessen sorgt vielerorts ein Herzschrittmacher für das angemessene Tempo.
 
Der Zwang zur Verlangsamung im beschleunigten Biotop hat die grausame Folge, dass die Zeit zunehmend schneller zu vergehen scheint. Der verschmitzt lächelnde Günter Grünwald (59) aus Bayern, ein geistreicher, beliebter Vollblut-Komiker, betonte genau das bei seinem Auftritt bei B3 am 02.01.2015. Bei ihm rase die Zeit inzwischen so sehr davon, dass er nicht einmal mehr den Weihnachtsbaum demontiere, weil ja sogleich wieder ein neuer Baum fällig werde und sich der ganze Aufwand also nicht lohnen würde.
 
Das Zeitempfinden ist gestört. Wenn wir meinen, es sei Frühling, ist schon Sommer. Die Gegenwart, in der wir leben, rutscht uns unter den Füssen weg ...
 
… auch in der Kunstwelt der Technik: Wie gesagt, ist die rasende Computer-Technologie das noch augenfälligere Symbol für den abrupten Übergang von sanften Lüftchen über den zunehmenden Wind bis zum Orkan der Stärke F4 auf der Fujita-Skala, wobei schwach verankerte Häuser verschoben und durch die vermehrte Kunststoffanwendung gewichtsreduzierte Autos umgeworfen werden.
 
Und während ich das schreibe (am 03.01.2015, nachmittags), kündigen die Wetterpropheten Orkanböen an. Ein mässiger Regen löst die letzten Schneereste auf; Bach- und Flussbetten sind randvoll. Vor meinem Büro steht ein grosser (Wal-)Nussbaum, auf dessen organisch geformten Ästen Moos und Flechten gedeihen. An den Leit- und Fruchtästen baumeln noch einige Dutzend Blätter und Blattpaare mit ihren langen Stielen. Trotz des Zusatzgewichts aus Regenwasser und den leichten Bewegungen, die gerade in eine nervöse Vibration übergegangen sind, hält sich das am Baum verbliebene, braunschwarze und schwer verrottbare Laub mit seinen langen Stielen an den Ästen fest. Die durchlöcherten und etwas schrumpelig gewordene Blattleichen sind, vom Westwind getrieben, dem Osten zugewandt. Doch aus dem Sturm wurde nichts. Das Gebläse gab auf, bevor es zur Hochform aufgelaufen war. Das meiste Laub blieb hängen, erhielt eine Gnadenfrist. Bis zum nächsten Angriff durch bewegte Luft.
 
Irgendwann werden alle Blätter abgefallen sein, eine Frage der Umstände und der Zeit. Dann wird der Nussbaum ein neues Kleid hervorbringen. Doch ein neues Programm braucht er nicht. Seine Technologie ist schon längst ausgereift.
 
 
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