Textatelier
BLOG vom: 10.02.2015

SMD Walterswil: Wiederholung von „Kölliken“, 3 km entfernt

Autor: Walter Hess, Publizist (Textatelier.com), Biberstein AG/CH
 
 
Einen Telefonanruf von Hertha Schütz-Vogel aus Unterentfelden (früher wohnte sie in Kölliken AG) im Aargauer Suhrental erhalten. Der Sondermüll in Kölliken, der jetzt mit einem Milliardenaufwand abgeführt ist, hat unsere Bekanntschaft in den 1970er-Jahren gefestigt. Ich war damals als „Aargauer-Tagblatt“-Redaktor für Umweltfragen und damit für Gifte zuständig. Selbstverständlich hatte ich sofort erkannt, dass man in dem vom Reussgletscher modellierten Gebiet am oberen Ende des grössten Grundwasserstroms des Landes (in der Tongrube der ehemaligen Ziegelei Kölliken) doch keinen Sondermüll mit abenteuerlichem, undefiniertem Inhalt beerdigen darf. Auf diese geistige Leistung bin ich nicht besonders stolz, denn die Überlegung lag ja auf der Hand.
 
Der unterirdische (Grundwasser-)Fluss, der weit mehr als 200 000 Menschen mit Trinkwasser versorgt, erstreckt sich, von Safenwil/Kölliken ausgehend, das Suhrental hinunter, unter Aarau und Brugg hindurch bis zum Rhein, ab Aarau also dem Aarelauf folgend. Als letzte Ruhestätte für hochtoxische Zivilisationsleichen ist ein Gebiet am Anfang eines Flusses, auch wenn dieser unsichtbar ist, denkbar ungeeignet. Denn diesen Hinterlassenschaften kann man wohl das beliebte pfarrherrliche Wort „Sie mögen in Frieden ruhen!“ zurufen. Doch wegen solch wohlfeiler Sprüche, wie wir sie nach dem Ende unserer Tage zu ertragen haben werden, findet eine Sondermülldeponie (SMD) nicht zur ewigen Ruhe. Sie brodelt wie ein Chemiereaktor so lange vor sich hin, bis die Gifte ausgewaschen und fortgeschwemmt sind und die chemischen Reaktionen keine Nahrung mehr finden.
 
Frau Schütz-Vogel schätzte die Lage vor rund 40 Jahren genau gleich wie ich ein. Sie regte sich auf, sammelte Informationen und bestürmte Behörden aller Stufen mit dem uneigennützigen Ziel, das Gefahrenbewusstsein zu fördern und Abhilfe zu schaffen. Gerade beliebt machte sie sich dadurch nicht. Ich spürte sofort, dass diese engagierte Dame, die Tage, Wochen und Monate für ihre Aufklärungen einsetzte, vertrauenswürdig ist. Sie stellte mir alle beschafften Dokumente zur Verfügung und übernahm dadurch für mich einen wesentlichen Teil der journalistischen Recherchearbeiten. Darauf konnte ich mit eigenen Erhebungen und Kontrollen aufbauen und aufrüttelnde Zeitungsartikel in die Welt setzen. Da die Fakten untadelig und meine Interpretationen nachvollziehbar waren, hatte niemand einen Ansatzpunkt, uns beide zum Schweigen zu bringen.
 
Die Geschichte ist bekannt, mehrfach beschrieben. Der Gemeinderat Kölliken schloss die SMDK am 18.04.1985. In der Folge gab es genügend Indizien, die lehrten, dass dieser letzte Dreck dort nicht mehr geduldet werden konnte. Es folgte der Rückbau, der zurzeit im Gange ist, nach allen Regeln der Entsorgungskunst für Entsorgtes.
 
Eine schöne, abschüssige Riesenhalle mit filigranen Stahlbögen, die das stützenfreie Dach tragen und mit der sich der Denkmalschutz befassen sollte, schützt die umliegende Welt vor den Immissionen, wie sie sich immer ergeben, wenn man im Morast wühlt. Man erlebt die Dimensionen, erhält eine Ahnung, was 1 000 000 000 CHF sind. Doch damit ist das Kapitel Sondermüll noch lange nicht am Verwesen. Denn die SMDK war nur eine der spektakulärsten, aber beileibe nicht die einzige SMD. Das BAFU (Bundesamt für Umwelt) geht von rund 50 000 belasteten Standorten in der Schweiz aus, wovon sich etwa 2500 im Aargau befinden dürften. Schätzungsweise. Bei rund 100 gehen die Bundesfachleute davon aus, dass früher oder später konkret interveniert werden muss. Der gesamte Aufwand für die Aufarbeitung aller Altlasten in der Schweiz wird zurzeit auf mindestens 5 Milliarden CHF geschätzt.
 
Ganz in der Nähe von Safenwil und Kölliken (rund 3 km entfernt, Luftlinie), im und auf dem Hang auf der linken Talseite, schmort die SMD Walterswil seit 1973 friedlich vor sich hin. Sie kann es altermässig und gewiss auch inhaltlich locker mit der SMDK aufnehmen. Und spätestens seit 1986 weiss der untenliegende Aargau, was ihm von dort frei Haus angeliefert wird. Dieses Verliess befindet sich, zusammen mit anderen Ablagerungsstätten in unmittelbarer Nähe: unter dem bewaldeten Gebiet südlich der im Dorfzentrum Walterswil beginnenden Engelbergstrasse und damit vollständig auf dem Boden des Kantons Solothurn. Doch ihre giftigen Abwässer streben dem leidgewohnten Aargau zu und landen genau dort, wo auch die SMDK-Säfte ihren Ausweg fanden: im erwähnten Suhre-/Aaretal-Grundwasserstrom, ebenfalls ganz oben. Und auch hier weiss man nicht, was dort im Gebiet Rothacker (Eihölzli und Flueweid) schlummert oder reagiert. Abwasserschächte und Entlüftungen sind Hinweise, dass in diesem Hügelzug, welcher das Gebiet ins solothurnische Niederamt (bis Däniken) überbrückt, Aktivitäten stattfinden.
 
Das kommt nicht von Ungefähr: Am 18.12.1986 erschien der recht ausführliche „Bericht zur Geologie und Hydrogeologie" , Baudepartement des Kantons Aargau, Abteilung Umweltschutz, worin die Gefahren fürs Grundwasser (und darum geht es ja im Wesentlichen) wegen der Bodendurchlässigkeit dargestellt sind - und zwar über Kölliken hinaus bis in den Raum Safenwil/Walterswil. Seit also bald 30 Jahren sind die Gefahren bekannt, in- und ausserhalb der Amtsstuben.
 
Wieder einmal war es Hertha Schütz-Vogel, die mich 2013 bei einer zufälligen Begegnung in Solothurn auf diesen brandgefährlichen bis explosiven Tatbestand aufmerksam machte. Das zeitigte Folgen: Am 23.09.2013 machten wir im Gebiet Rothacker eine gemeinsame Geländebegehung, wie man im Amtsjargon sagen würde. Wir mögen bei einem Lastwagenchauffeur, der Kehrichtschlacke anlieferte, den Eindruck eines älteren Ehepaars, das sich verlaufen hat, erweckt haben. Möglicherweise sind in dieser Ausweichdeponie besonders üble Gifte, die nicht einmal in Kölliken Unterschlupf fanden, abgelagert. Natürlich sind Gras, Stauden und Waldbäume darüber gewachsen. Und weil wir keine Maulwürfe sind und auch kein schweres Bohrgerät mit uns trugen, blieben uns nur Vermutungen aufgrund dessen, was der Schöpflerbach am Fusse des Hügels anschwemmte.
 
Was wir bis anhin herausgefunden hatten, schrieb ich minuziös auf und verbreitete es im Internet; die Blogs können dort noch immer nachgelesen werden (Links am Schluss dieses Texts). Eine gewisse Bewegung stellte sich bei verantwortungsbewussten Lokalpolitikern und Leuten ein, doch die Kantonsbehörden blieben immun; die Kantone Solothurn und Aargau entwickelten ein eigentliches Immunsystem, wie es sich jeder Mensch nur wünschen kann. Briefe werden auf Drängen hin zwar abwimmelnd beantwortet. Und man macht ja schliesslich etwas. Das Schöpflerbächli wird neu gefasst und mit einer tiefen Mauer von der anfliessenden Giftbrühe verschont. Man zeigt damit: Es geht etwas (wenn das Wetter das Bauen zulässt), aber das Grundproblem im Untergrund bleibt unverändert. Man doktert an einem Indiz herum, lässt aber das Grundübel unangetastet. Die Kosmetik soll beruhigen, wie wenn man unter einem hautfarbenen Puder und Wangenrouge eine Entzündung versteckt.
 
„Herr Hess“, schrie Frau Schütz am 05.02.2015 ins Festnetztelefon, „es ist zum Verzweifeln. Manchmal denke ich, ich sollte aufgeben“. Ich schrie zurück, so etwas werde überhaupt nicht akzeptiert, stehe ausserhalb von jeder Diskussion. Das wirkte. Die Kämpferin hatte in jenen Tagen einen Antwortbrief aus dem aargauischen Departement Bau, Verkehr und Umwelt in Aarau, unterzeichnet von Regierungsrat Stephan Attiger, empfangen, der die Empfängerin trotz der Beruhigungspillen der Resignation nahe brachte. Darin steht zu lesen, dass die Überwachung der Deponie „seit vielen Jahren nach den gesetzlichen Vorgaben erfolgt und von den dafür zuständigen Solothurner Behörden beaufsichtigt und beurteilt wird.“
 
Die Solothurner Behörden haben sich, wie ich mir beizufügen getraue, seit Jahren bemüht, die Frage herunterzuspielen; man will weder Kosten noch Imageverluste riskieren. Schätzungsweise. Deshalb müsste meiner Ansicht nach die Überwachung von einer neutralen, unbeteiligten Seite erfolgen.
 
Der regierungsrätliche Brief aus Aarau dreht sich dann im Wesentlichen um den Schöpflerbach, als ob sich in diesem bescheidenen Rinnsal das Hauptproblem manifestieren würde. Es ist eine Mauer zur Abschirmung der Sauce aus der Deponieküche vorgesehen. Dass der Mauerbau nicht in der angekündigten Frist (bis 2013) erledigt werden konnte, geht auf eine Einsprache (Attiger: „Teil unseres Rechtssystems“) gegen die von der Gemeinde Walterswil erteilte Baubewilligung zurück. So unwillkommen mag sich die begründete Verzögerung nicht eingestellt haben. Mit Tatenlosigkeit hatte das also nichts zu tun. Im März 2015 wird tiefgebaut, wenn das Wetter mitmacht.
 
Der freundliche Regierungsrat Attiger, mit sich und der Welt im Reinen, fügte seinem Brief eine abschliessende Beruhigungspille bei: „Zusammenfassen darf ich festhalten“, schrieb er, „dass es auch in meinem uneingeschränkten Interesse ist, dass von der Solothurner Deponie Rothacker keine Umweltgefährdung ausgeht. Ich konnte mich überzeugen, dass sich die zuständigen Stellen des Kantons Solothurn konsequent für dieses Anliegen einsetzen.“
 
Statt Glücksgefühle stellte sich bei Frau Schütz Verzweiflung ein: „Es läuft wieder genau gleich wie anfänglich in Kölliken.“
 
Wir sprachen dann noch über die Rolle der heutigen Publizisten, die bei ihren multimedialen Verstrickungen und wegen Geldnöten und Zeitknappheiten in ihren Meinungsäusserungsfreiheiten sehr eingeschränkt sind, und weil sie die Leserbedürfnisse enttäuschen und zusehen müssen, geht ihr berufliches und persönliches Ansehen bachab. Und wir redeten über den Umweltschutz, der beim heutigen Marktradikalismus ins Abseits geschoben wird, zumindest immer dort, wo er nicht als Geschäftsgrundlage etwas hergeben kann.
 
Und wir schnitten noch die Altersthematik an. Eigentlich könnte es einem ab einem gewissen Alter ja egal sein, wenn der Mensch als neuerdings stärkster Evolutionsfaktor sein Unwesen treibt, und doch möchte man am bitteren Ende vom Gefühl beseelt sein, alles in seiner Ohnmacht Stehende getan und anständig gelebt zu haben.
 
„Ich wünsch‘ Ihne en Guete“, verabschiedete sich Frau Schütz. Es war Zeit zum Mittagessen. Ich liess es mir schmecken. Alles andere hätte ja auch nichts gebracht.
 
 
Hinweis auf die Beschreibung der SMDK im Textatelier.com
 
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