Textatelier
BLOG vom: 05.10.2015

„Tarte Tatin“

Autor: Fred Casadei


Bei Hundebesitzern dominieren im Allgemeinen ihre Hunde. Der Afghane von Manuel und Rachel empfängt einen wie üblich am Haustor und muss immer erst überzeugt werden, dass wir Freunde des Hauses sind. Trotzdem freut er sich immer auf Gäste, denn die versprechen Futterfreuden, die es nur bei Einladungen gibt. Er ist gross genug, um die für die Gäste bereitgestellten Häppchen vom Tisch zu schnappen. Er weiss das und nutzt es redlich aus. Rachel lächelt dabei immer, selbst bei diesen Hundeungehorsamkeiten. 

Wir konnten sie mit Mühe von einer Essens-Einladung abbringen. Das letzte Mal steckte sie die Ente um 21:30 in den Ofen, die dort noch zwei volle Stunden zubringen musste, bevor sie dann um Mitternacht auf den Tisch kam. Der gute Ruf ihrer Kuchen brachte uns auf die gute Ausrede: warum treffen wir uns nicht einfach zu einem Kaffee mit Kuchen bei Dir? Was an einem schönen, aber arg windigen Tag im Mai auch tatsächlich geschah. Wir fuhren hinauf in ihre schöne Villa und setzten uns unter die riesige Schirm-Pinie, deren männliche Kätzchen eben gerade reif geworden sind. Der Wind löste sie reihenweise und sie schlugen wie Mikrobomben auf dem Tisch ein, einen gelben Pollenstaubrand hinterlassend. Es waren so an die zehn Einschläge pro Sekunde.

Auf dem Beistelltisch stand schon das noble chinesische Porzellan für den Kaffee, denn Manuel und Rachel sind aus gutem Stall. Ein paar fein bebilderte Papierserviettchen lagen bereit, bis der Wind sie dekorativ im Rosengarten verteilte. Nach einer Stunde kam dann auch bereits der Kaffee. Im Porzellan serviert, leider ohne Zucker, ohne Löffel und selbstverständlich auch ohne Milch. Das meiste kam nach und nach, ausser der Milch natürlich, aber während der Wartezeit waren die Tassen dem Beschuss des Bombardements aus den Schwingen der Pinie ausgesetzt. Rachel setzte ihr reizendes feines Lächeln auf. Der Kaffee bekam allmählich eine gelbliche Tönung. Die Kätzchen zerfielen sofort, wenn man versuchte, sie aus der Tasse zu fischen.

Richtig unterhaltsam wurde es dann beim Schneiden des Kuchens. Er war eine Tarte Tatin mit Mangos und einer viel zu grosszügig geratenen Karamel-Glasur, die noch weich und flüssig war, denn der Kuchen kam direkt aus dem Ofen. Rachel lächelte und setzte das grosse Messer an. Vor dem zweiten Schnitt weigerte sich dieses aus der Masse zu kommen. Es klebte entsetzlich. Die Glasur war inzwischen etwas härter geworden. Das Messer drohte den ganzen Kuchen mitzunehmen, die Glasur zog Fäden und wollte nur als Ganzes den Kampf aufgeben. Eine silberne Kuchenschaufel wurde in den Kampf geworfen und lieferte sich mit dem Messer einen regelrechten Säbeltanz. Beide klebten aneinander, es rieben sich gehärteter Stahl und feines Silber und beide verkeilten sich im klebrigen Zucker aufs Innigste. Ein erster Kuchen-Abschnitt wurde schliesslich aus dem Schlachtfeld herausgelöst. Man konnte ihm die schweren Belastungen des Kampfes gut ansehen. Rachel lächelte jetzt besonders süss.

Das erste Kuchenstück bekam Marie-Mo, die vergeblich nach einer Gabel Ausschau hielt. Die Feuerunterstützung von oben hielt unterdessen an und verzierte den Kuchen mit gelblichen Einschlagkratern von hoher Treffergenauigkeit. Mit dem Nachschub aus der Küche kamen auch Gabeln. Eine Waffe, die sich nach kurzen Versuchen als kriegsuntauglich herausstellte. Der Feind haftete sich geschlossen an diese und weigerte sich auch nur ein kleines Bisschen seines Terrains aufzugeben. Die herbeigeschafften Löffel wurden in das Schlachtgetümmel geworfen und waren nahe dabei, irreparabel verbogen zu werden.

Ein erster Bissen war geschafft; aber dann ging es erst recht los. Oberkiefer und Unterkiefer hafteten auf Trefflichste aneinander und liessen sich nicht mehr lösen. Marie-Mo verdrehte ihre Augen. Ich ahnte ihre Befürchtungen. Zahnprothesen sind eine teure Angelegenheit. Der einzige Feind, der der Übermacht Herr wurde, war Speichel, der nach und nach die Gegnerschaft auflöste und für kurze Zeit aufatmen liess. Marie-Mo zählte mit Zunge und Fingern ihre Zähne und stellte mit grosser Genugtuung fest, dass sie den Angriffen stand gehalten hatten.

An eine Weiterführung der Kampfhandlungen war nicht zu denken, zu gross war das Schadensrisiko. So blieb ein Grossteil der hinterhältigen Masse auf den Schlachtfeldern liegen und wurde nach und nach vom Bombenhagel eingedeckt.

Der ungezogene Afghane schwenkte kurz seine Schnauze über den Tisch in der Absicht, seine üblichen Diebereien zu begehen, liess aber dann von seinem Vorhaben ab. Zu suspekt war ihm diesmal offenbar die Kriegsbeute.

 


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